Ein zartblauer Maienmorgenhimmel spannt sich über Bern, Blütenduft reichert schon in der Agglomeration die frische Luft an, eine Biene summt, ein Hund bellt, Vögel zwitschern, ansonsten Stille. Geradezu ein Aufruf: Nichts wie raus!
Offenbar hört ihn fast niemand. Auf dem Jakobsweg bei Kehrsatz ist kein Mensch anzutreffen. Erst gegen Mittag kommt auf der Route von Einsiedeln nach Genf beim Kloster Rüeggisberg eine Frau daher mit leichtem Rucksack, leichter Kleidung, wachem Blick. Ein freundlicher Gruss, aber nein, sie sei nicht am Pilgern, sagt Ingrid Lüthi. Doch sie würde es gerne einmal tun, bloss nicht allein. Sie hat zu viel Respekt vor Hunden.
Wandermuffel war einmal
Zu Fuss unterwegs ist die 55-Jährige regelmässig. Ende 30 habe sie das Wandern neu entdeckt – nachdem sie als Teenager ihrem Vater gesagt habe, sie werde in ihrem Leben niemals wieder wandern. Und im Grund pilgert Ingrid Lüthi häufig, ohne es zu wissen. «Ich gehe gern zu Fuss, halte dabei Rückschau auf das Vergangene, nehme Abstand, schliesse ab. Und ich schaue voraus auf die nächsten Tage und in die weitere Zukunft.»
Ingrid Lüthi geht tageweise, heute von Rüeggisberg nach Schwarzenburg, gerne auch in die Berge. Keine weiten Strecken über Wochen, aber oft tief in Gedanken versunken. Manchmal frage sie sich, warum sie sich das antue, sagt Lüthi. «Aber umkehren würde ich nie. Ich vergleiche das mit dem Leben. Das geht auch immer weiter. So nehme ich den Weg den steilen Hoger hinauf. Ich sage mir einfach: Es geht, du schaffst das.»
Der Jakobsweg führt hinunter ans Schwarzwasser. Ein steiler Anstieg folgt in heisser Nachmittagssonne. Da zieht leicht gebückt ein grosser Mann eine Art angehängten Einkaufstrolley mit Speichenrädern die Treppenstufen hoch. Ja, er pilgere, sagt Markus Wolfisberg. Eine Woche zuvor ist er in Wohlen im Aargau gestartet. Ihn erwartet eine weite Reise mit schwerem Gepäck. Ausser dem Jakobsweg hat er kein Ziel: «Ich gehe offen, ich suche nicht das Heil», sagt der 40-Jährige.
Mit Solarzelle und GPS
Ausgestattet ist Wolfisberg mit Sonnenhut, Stöcken, GPS am und Solarzelle auf dem Wagen, mit Zelt und der Bilderbuchbiographie eines Pilgers. «Der Weg ist das Ziel. Ich will einfach mal ausklinken.» Er habe knapp 20 Jahre als selbstständiger Unternehmer fast nur gearbeitet. Selbst in den Ferien waren Handy und Computer dabei. Nun hat er sich für drei Monate verabschiedet. Der Entscheid sei bisher die grösste Veränderung gewesen in seinem Vorhaben. Einfach zu sagen: Ich gehe jetzt.
Und warum der Jakobsweg? «Das weiss ich eigentlich auch nicht. Man sagt: Der Jakobsweg ruft einen. Ich habe einfach beschlossen, mich auf den Weg zu machen.» Wäre er vor zwei Jahren gefragt worden, hätte er wohl geantwortet: Warum soll ich jetzt dort runtergehen, in den Süden? Erst als sein Entschluss gefallen ist, hat er sich zum Thema informiert. Ob er bis nach Santiago de Compostela kommt, weiss er nicht. «Ich bin einfach gespannt, was passiert», sagt Wolfisberg und zieht weiter seines Weges.