Recherche 04. März 2023, von Cornelia Krause

«Der Kampf gegen Antisemitismus gehört auf den Lehrplan»

Gesellschaft

Stephanie Graetz, Geschäftsleiterin der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, über Präventionsarbeit bei Kindern und ein Verbot von Nazi-Symbolen.

Antisemitische Vorfälle nehmen seit Jahren zu. Versagen die Strategien der Prävention und der Bekämpfung?

Diese Frage muss man sich stellen, aber von einem generellen Versagen kann man nicht sprechen. Unsere Stiftung ist auch in der Präventionsarbeit tätig und immer wieder kommen beispielsweise Schulen auf uns zu, die nicht genau wissen, welche Angebote es überhaupt gibt. Zwar werden die Themen Rassismus und Antisemitismus im Lehrplan erwähnt, aber eine detaillierte Übersicht zu den Angeboten scheint zu fehlen. Insofern sehe ich da eine Lücke, das Thema braucht einen festen Platz im Lehrplan

«Hitler hätte euch alle vergasen sollen», war ein Spruch, den sich die etwa zehn, zwölf Jahre alten Kinder einer jüdischen Fussballmannschaft von einem Kind der gegnerischen Mannschaft anhören mussten. Vorfälle wie dieser, über den 20 Minuten berichtete, schockieren. 

Solche Sprüche hören Kinder typischerweise von Erwachsenen, bevor sie sie wiedergeben. Deshalb denke ich dass neben den Schulen vor allem wir Erwachsene in der Pflicht stehen – und zwar bei rassistischen Sprüchen im Allgemeinen.

Müsste die Präventionsarbeit bereits in der Primarschule einsetzen?

Definitiv. Das Problem ist, dass der zweite Weltkrieg erst ab der Sekundarstufe richtig durchgenommen wird. Trotzdem gibt es auch Bildungsmaterial für jüngere Kinder. Unsere Partnerstiftung hat etwa ein Lehrmittel, das schon in der Kita zum Tragen kommt. Da geht es dann um Toleranz allgemein. Aber es gibt auch Lehrmittel für die Primarschule. Wir erhalten viele Anfragen von Lehrern, die an ihre Grenzen stossen und Unterstützung bei dem Thema suchen.

Wie verbreitet ist Antisemitismus unter Kindern?

Wohl genauso wie bei Erwachsenen, wobei uns keine Studie bekannt ist, die das quantifizieren würde. Kürzlich war ich an einer Filmvorführung eines Films über Anne Frank. Bei der anschliessenden Diskussion sagte ein Jugendlicher, Juden seien ja selbst schuld am Holocaust, sie seien einfach zu reich geworden. Oft ist es Kindern zu wenig bewusst, welche Vorurteile sie mit solchen Aussagen wiedergeben. Aber nochmals: Kinder sind oft selbst Opfer ihres Umfeldes und es ist an uns Erwachsenen,  sie auf die Konsequenzen  solcher Aussagen aufmerksam zu machen.

Stephanie Graetz (39)

Stephanie Graetz (39)

Seit Juli 2022 ist Stephanie Graetz Geschäftsleiterin der GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Graetz hat an der Universität Luzern Jura studiert und einen Masters in Journalismus in Hamburg gemacht. Mehrere Jahre arbeitete sie als Kommunikationsberaterin in Agenturen. Gegen Rassismus und Diskriminierung engagiert sie sich auch im Schweizer Ableger des Vereins NCBI (National Coalition Building Institute).

Fordern Sie ein härteres Vorgehen von Lehrpersonen oder Trainern?

Es ist schwierig, immer den Lehrinnen und Lehrern die Aufgabe zuzuschieben. Primär sind ja die Eltern für ihre Kinder verantwortlich. Aber es ist auch klar: Toleranz muss an Schulen vorgelebt und Diskriminierung jeglicher Art vermieden werden Wir beobachten, dass Kinder und Jugendliche bei solchen Themen grundsätzlich sehr sensibel und verständnisvoll sind. So haben wir zum Beispiel letztes Jahr erstmals einen zweitägigen Kurs für Jugendliche durchgeführt, um sie an ihren Schulen zu Anti-Rassismus-Botschaftern auszubilden. Das Interesse und Engagement war beeindruckend!

Der Antisemitismusbericht hat gezeigt, dass sich der grösste Anstieg von Fällen im Netz ereignet. Hat Sie die erneute Zunahme in dem Bereich überrascht?

Im Jahr zuvor war der Anstieg von Online-Vorfällen auf die Pandemie zurückzuführen. Die Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19 und auch die Impfung befeuerten Verschwörungstheorien, die oft Jüdinnen und Juden im Fokus hatten. Wir hatten eigentlich gehofft, dass das ein Übergangsphänomen ist und dass die Fälle im Netz mit dem Ende der Pandemie zurückgehen. Aber nun kam der nächste Treiber - der Krieg in der Ukraine. Der Anstieg ging also ungebremst weiter.

Erneut geht es bei den Verschwörungstheorien um den Kampf zwischen Gut und Böse, abenteuerliche Geschichten über Satanisten, Ritualmorde an Kindern – klassische antisemitische Erzählungen. 

Die jüngste Theorie geht auf ein Volk zurück, das im 7. Jahrhundert auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und Russland lebte.  Aber hinter den unterschiedlichen Theorien stehen immer die gleichen Aussagen. Sobald irgendetwas in der Welt passiert, finden Menschen ein antisemitisches Narrativ. Sie vermuten eine geheime Weltmacht im Hintergrund. Juden und Jüdinnen werden als Sündenböcke hingestellt. Das ist ein uraltes Phänomen, welches sich auch in der modernen Welt immer wieder von Neuem hartnäckig durchsetzt. Uns geht es  darum, dass Antisemitismus nicht salonfähig wird. Abschaffen werden wir ihn wohl nicht können.  

Die meisten Fälle finden sich auf Plattformen wie Telegram. Wie lässt sich dagegen vorgehen?

Das Netz ist ein Fass ohne Boden. Deshalb ist da auch klar die Politik gefragt. Sie muss die Betreiber von Plattformen in die Pflicht nehmen, wenn Hass und Verschwörungstheorien verbreitet werden. Noch stellt sich beispielsweise Telegram hinter die Nutzerinnen und Nutzer und sieht das nicht als eigene Aufgabe. Deshalb bräuchte es klare, gesetzliche Vorgaben. Um Plattformen zu belangen und um letztlich gegen hassverbreitende Nutzer vorgehen zu können. Gleichzeitig gilt es, die Meinungsäusserungsfreiheit zu wahren und nicht private Gesellschaften entscheiden zu lassen, was gesagt werden darf und was nicht. Es ist eine hochkomplexe Situation und es ist klar, Hassrede im Netz ist für unsere Gesellschaft ein grosses Problem.

Gesellschaftsfeindliche Subkultur

Die Zahl der antisemitischen Vorfälle in der Schweiz ist im vergangenen Jahr erneut gestiegen. 910 Fälle verzeichnete der Bericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG und der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Das entspricht einer Zunahme von sechs Prozent. Für viele Fälle sei eine von Verschwörungstheorien besessene Subkultur verantwortlich, heisst es im Bericht, der jährlich veröffentlicht wird. Die Ereignisse in der realen Welt stiegen von 53 auf 57.  

Der Grossteil der Vorfälle (853) ereignete sich jedoch auch 2022 im Internet. Vor allem der Kommunikationsdienst Telegram spielte dabei eine unrühmliche Rolle: 75 Prozent der gemeldeten Fälle ereigneten sich auf der Plattform. Das entspricht einer deutlichen Steigerung: Im Jahr 2021 lag der Anteil noch bei 61 Prozent.  Im Kurznachrichtendienst Twitter wurden hingegen deutlich weniger Vorfälle registriert. In den Jahren zuvor hatte vor allem die Corona-Pandemie antisemitistische Verschwörungstheorien befeuert.

Im Milieu der staatlichen Corona-Massnahmen-Gegner habe sich nun aber eine staats- und gesellschaftsfeindliche Subkultur entwickelt, die Verschwörungstheorien verschiedener Art anhänge, heisst es im Bericht. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine habe neuen Theorien Aufwind gegeben. Dabei würden oftmals Verbindungen zu jüdischen Menschen hergestellt und antisemitische Narrative entwickelt. SIG und GRA erstellen den Bericht für die deutsch-, italienisch- und rätoromanischsprachige Schweiz. Eine separate Erhebung in der Romandie verzeichnete ebenso eine Zunahme.

In der «realen Welt» dreht sich die Diskussion auch um Symbole, mit denen Hass auf jüdische Menschen offen gezeigt wird, etwa das Hakenkreuz. Im Antisemitismusbericht wird ein Verbot von Nazi-Symbolen gefordert. Wie realistisch ist es für Sie, dass das kommt?

Ein Bericht des Bundesamts für Justiz kam jüngst zum Schluss, ein entsprechendes Verbot sei möglich. Und im Parlament sind nun verschiedene Vorstösse dazu hängig. Insofern hoffen wir, dass ein entsprechendes Verbot nun eine Chance hat. Es ist auch schwierig nachzuvollziehen, warum es in der Schweiz – anders als in anderen Ländern – unter dem Deckmantel der Meinungsäusserungsfreiheit erlaubt ist, mit einer Hakenkreuzfahne durch die Strassen zu ziehen. Das Bundesgericht machte hier einen theoretischen Unterschied zwischen dem Ausdruck einer inneren Überzeugung und dem Werben für eine Ideologie, der in der Praxis nicht umsetzbar ist. Deshalb fordern wir ein Verbot solcher Nazisymbolik, wobei es ja nicht nur um Hakenkreuze geht.

Sondern?

Es gibt auch Kennzeichnungen, die auf den ersten Blick weniger offensichtlich sind aber genauso menschenverachtend. In unserem jährlichen Rassismusbericht gibt es etwa ein Foto eines Pickups, auf dem ein Aufkleber prangt, der einen Wachturm des Konzentrationslagers Buchenwald zeigt. Dann steht da noch «Buchenwald, established 1937». So etwas ist nicht weniger schlimm als eine Hakenkreuzfahne. Insofern braucht es eine gesetzliche Grundlage, die Richterinnen und Richter auch entsprechend auslegen können. Wir müssen ganz klar zeigen: In unserer Gesellschaft werden menschenverachtende Symbole nicht akzeptiert.