Recherche 26. August 2020, von Nicola Mohler

Individuen statt Minderheiten schützen

Laizismus

In ihrem jüngsten Buch kritisiert Cinzia Sciuto den Multikulturalismus. Der gefährde die Errungenschaft, dass wir vor dem Gesetz alle gleich sind, sagt die Philosophin.

Wieso forschen Sie zu Religionen?

Cinzia Sciuto: Sie beeinflussen unsere Gesellschaft wie andere Strömungen auch. Als Bürgerin muss und will ich mich deshalb mit ihnen beschäftigen, wie ich das auch mit der Politik und Wirtschaft mache.

Fühlen Sie sich als Atheistin im Alltag von Religion diskriminiert?

Ja, immer wieder. Aber ich würde mir deshalb nicht anmassen, spezielle Gesetze zu fordern.

Sie kritisieren den Umgang des Staates mit den Religionen.

Der Staat darf keine Religion besser behandeln als irgendein anderes Werte- oder Glaubenssystem. Sie sind gleich zu behandeln wie jeder andere gesellschaftliche Akteur auch. Wenn Rechte nicht für alle gelten, nennt man sie Privilegien.

Was heisst das konkret?

Nehmen wir die Taufe. Ein Initationsritus von Neugeborenen, also von Menschen, die nichts dazu zu sagen haben, wäre in einem nicht religiösen Kontext undenkbar.

Muss Religion aus Ihrer Sicht aus dem Alltag verschwinden?

Religionen dürfen den öffentlichen Raum nicht strukturieren. Ich will weder von einem Polizisten kontrolliert werden, der ein Kreuz am Hals trägt, noch will ich, dass meine Kinder von einer Lehrerin mit Kopftuch unterrichtet werden. Keine Religion darf Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern verletzen – wie dies ja auch keiner politischen oder philosophischen Haltung erlaubt ist. Jedes Individuum soll sein Leben nach den eigenen Überzeugungen und Werten gestalten können. Es ist in Ordnung, dass  Gläubige sich in ihrem Alltag an ihrer Religion orientieren. Die Religion gehört aber in die Privatsphäre, was die kollektive Ausübung des Glaubens ja nicht verunmöglicht.

Sie kritisieren den Multikulturalismus. Wo liegt das Problem?

Der Begriff ist trügerisch. Meist verwenden wir das Wort im Zusammen-hang mit farbenfrohen Begegnungen unterschiedlicher Bräuche, mit Vielfalt in der Küche, der Musik oder der Mode. Die Verwendung von Multikulturalismus wird aber dann problematisch, wenn er impliziert, dass in einer multikulturellen Gesellschaft Menschen aufgrund ihres ethnischkulturellen und religiösen Hintergrundes unterschiedlich behandelt werden müssen. Religion und Kultur machen ein Individuum noch lange nicht aus. Der Multikulturalismus argumentiert mit Kategorien und Stereotypen, die immer zu eng oder zu weit gefasst sind und die der Komplexität einer einzelnen Identität nicht gerecht werden.

Welche Gefahren sehen Sie im Multikulturalismus?

Linke argumentierten oft mit der guten Absicht, Minderheiten gelte es zu schützen. Ich antworte: Nicht die Minderheiten brauchen Schutz, sondern jedes Individuum. Wenn jede Minderheit spezielle Rechte durchsetzt, laufen wir Gefahr, eine Pluralität von Rechtssystemen zu haben. Das gefährdet die Errungenschaft, dass es nur ein Gesetz gibt. Und auch, dass wir alle vor dem Gesetz gleich sind. Ein System mit verschiedenen Rechtssystemen ermöglicht Parallelgesellschaften.

Wie sollte also mit Religionen umge-gangen werden?

Es genügt nicht mehr, dass Staat und Kirche getrennt sind, sondern der laizistische Staat muss hinterfragen, was im Inneren religiöser Gemeinschaften passiert. Nur so kann er die Rechte der einzelnen Bürgerinnen und Bürger gewährleisten. Die Religionsgemeinschaften sollten sich in Vereinen organisieren – genau so, wie das ja Parteien oder Sportclubs ebenfalls tun. So können sie ihren Glauben leben, Kongresse organisie-ren und öffentliche Veranstaltungen abhalten.

In der Schweiz diskutieren wir über die Anerkennung des Islams. Was halten Sie von der Debatte?

Ich finde, wir brauchen überhaupt keine Anerkennung von Religionsgemeinschaften. Ein laizistischer Staat wäre die beste Voraussetzung dafür. Aktuell ist es der Islam, der die Anerkennung fordert, in naher Zukunft kann es bereits eine andere wachsende Religionsgemeinschaft sein.

Cinzia Sciuto, 39

Die Philosophin ist in Sizilien aufgewachsen. Sie arbeitet als Journalistin und ist Redaktorin der italienischen Zeitschrift für Philosophie und Politik «MicroMega». In ihrem Blog «Animabella» schreibt sie über Säkularismus, Frauenrechte und Demokratie. Ihr Buch «Die Fallen des Multikulturalismus» erschien im Rotpunktverlag.