Recherche 21. August 2017, von Nicola Mohler

Zehn Zentimeter dick und sieben Kilo schwer

Berner Oberland

Im Gasterntal hütet der älteste Bewohner eine 300 Jahre alte Bibel. Hervorgenommen wird sie jeweils am ersten Sonntag im August, oder wenn Gäste nach ihr fragen

Das sieben Kilo schwere und zehn Zentimeter dicke in Leder gebundene Buch mit Messingbeschlägen thront auf einer Holzkiste mit der Aufschrift «Gasternbibel». Pfarrer Peter Gutknecht aus Kandersteg hat Kapitel 17 im Zweiten Buch Mose aufgeschlagen. Daraus liest er an diesem verregneten und nebligen Sonntag während der traditionellen Gasternpredigt, die jeweils am ersten Sonntag im August stattfindet.

Seit 300 Jahren zelebrieren die Talbewohner die traditionelle Bergpredigt, bei der sich bei schönem Wetter die Gemeinde bei den «Hüseren» auf einer Matte im Freien versammelt. Des schlechten Wetters wegen kommen jedoch die Gottesdienstbesucher dieses Jahr unter grossen Plastikplanen beim Hotel Steinbock etwas weiter hinten im Tal zusammen. Rund hundert Personen in Trachten und Regenjacken, mit Bergschuhen und Regenschirmen ausgestattet, angereist von nah und fern.

Geschenk mit Auflage. Die Gasternpredigt ist weit über das Tal ob Kandersteg hinaus bekannt. Denn nur hier lesen Pfarrerinnen und Pfarrer heute noch im Gottesdienst aus der alten Berner Staatsbibel, die Johann Piscator übersetzt hat (siehe Box). Die sogenannte Piscatorbibel kam 1696 ins Gasterntal, als Ulrich Thormann, der Landvogt von Aigle, von der Berner Obrigkeit den Auftrag bekam, den Saumpfad über den Lötschenpass aufzubessern. Thormann schenkte den Talbewohnern aus Dankbarkeit für die Gastfreundschaft ein solches Exemplar. Und zwar eines der ersten Auflage aus dem Jahr 1684.

In jener Zeit lebten rund fünfzig Personen das ganze Jahr über im Gasterntal. Die nächste Kirche lag zwanzig Kilometer entfernt in Frutigen. Lawinen und Steinschläge schnitten die Bewohner manchmal wochenlang von der Aussenwelt ab. Und der Pfarrer kam nur selten ins Gastern, das wilde Tal an der Grenze zum Kanton Wallis. Deshalb schenkte Thormann den Talbewohnern die Bibel als eine Art Glaubenshilfe. Mit dem Geschenk war jedoch eine Auflage verbunden: «Es soll dise Bibel allezeit verbleiben in Handen des Eltesten Hausvaters oder Hausmutter derjenigen so dass gantze Jahr aus in Gasteren wohnen», steht auf der ersten Vorseite der Gasternbibel von Hand geschrieben.

An diese Forderung halten sich die Bewohner des Gasterntals nun seit 300 Jahren. Auch wenn sich ihr Leben längst verändert hat und das Tal seit über 150 Jahren nur während den Sommermonaten bewohnt ist. Allerdings hütet immer noch die älteste Person im Gastern das besondere Buch. Zurzeit ist dies der 77-jährige Christian Künzi. Seit 1996 be­findet sich die kostbare Gasternbibel in seiner Obhut.

Im Safe aufbewahrt. Und so liegt diese in den Sommermonaten in einem Safe im Hotel Steinbock, das Künzi zusammen mit seiner Familie führt. Aus dem Safe kommt die Bibel aber nicht nur am ersten Sonntag im August für die Gasternpredigt, sondern auch immer dann, wenn Interessierte im Hotel Steinbock nach ihr fragen; mit weissen Handschuhen darf jeder in ihr blättern. Im Winter nimmt Künzi die Gasternbibel mit nach Kandersteg, wo er die kalten Monate verbringt.

Auch dort lagert er sie in einem Safe, um sie vor Feuchtigkeit und Kälte zu schützen. Neben der Gasternbibel hütet Künzinoch ein zweites, jedoch aber viel dünneres Buch; eine Chronik. 1822 begannen nämlich die im Gasterntal predigenden Pfarrer regelmässig handschriftlich wichtige Ereignisse des Tales auf den leeren hinteren Seiten der Gasternbibel und dann auf beigehefteten Blättern zu notieren. Seit 1979 wird dafür nun ein separater Chronikband geführt. Darin ist etwa nachzulesen, wie viele Besucher der jährliche Berggottesdienst zählte, welche Talbewohner wann verstorben sind oder dass 2011 das Tal von einem schweren Unwetter heimgesucht wurde.

Bis heute überlebt. Aus dem Jahre 1916 stammt ein Eintrag von Karl von Greyerz. Der damalige Pfarrer der Kirchgemeinde Kandergrund-Kandersteg notiertin der Chronik zwei Strophen, die in jenem Jahr die rund 500 versammelten Menschen gesungen haben: «Mach vom Hass die Geister frei, Frei von Sündenlast und Ketten, Brich des Mammons Sinn entzwei, Du nur kannst die Menschheit retten. Rette uns aus Schuld und Not, Heilger Geist, bramherzger Gott!»

Die von Greyerz eigens für die damalige Predigt gedichteten Strophen sind bis heute erhalten geblieben im Kirchenlied «Grosser Gott, wir loben dich». Es ist denn auch dieses Lied, das Pfarrer Peter Gutknecht zum Abschluss der dies­jährigen Gasternpredigt zusammen mit den Besuchern und der Musikgesellschaft Kandersteg anstimmt – während der Regen nachlässt und sich der Nebel langsam auflöst.

Die Berner Staatsbibel

Im 17. Jahrhundert beschloss die Berner Regierung, eine eigene Bibel herauszugeben – um den schwindenden Vorrat an Bibeln aufzustocken. Sie entschied sich für die Übersetzung des Herborner Theologieprofessors Johann Piscator (1546–1625), weil diese bereits bekannt war; viele junge Berner hatten beim Theologen in Herborn studiert und sein Bibelwerk mit in ihre Heimat gebracht.

Staatsräson. So wurde 1648 die erste Piscatorbibel in Bern gedruckt – auch bekannt als «Berner Staatsbibel». Neben Luther und Zwingli hatte Piscator die einzige bedeutende evangelische Bibel für den deutschsprachigen Raum geschaffen. Als reformierter Stand musste sich Bern fast zwangsläufig für Piscator entscheiden, da die Zürcher Bibel für die Berner Obrigkeit keine Option war.

Sprache. Doch durchsetzen konnte sich in Bern die Piscatorbibel vor allem gegen die Lutherbibel nicht. Zu viele Ecken und Kanten hat ihre Sprache. Denn für den Calvinisten Piscator stand im Mittelpunkt seiner Übersetzungimmer die möglichst wortgetreue Wiedergabe des Urtextes. Aus diesem Grund tönt Piscators Übersetzung hier und da holprig und unschön, vor allem, wenn man sie mit Luthers Sprache vergleicht.