Sie wurden vom Kirchenrat zur Reformationsbotschafterin ernannt. Was bedeutet denn eigentlich, reformiert zu sein?
Catherine McMillan: Dass wir alles an Jesus Christus messen und uns nicht anmassen, die ganze Wahrheit zu kennen. Wir müssen uns stets infrage stellen lassen.
Reformierte glauben nur unter Vorbehalt?
Nein. Aber sie wissen, dass ihre Erkenntnisfähigkeit begrenzt ist. Kein Mensch und keine Institution ist Herr über unseren Glauben. Die Autorität ist allein Jesus Christus. Er ist bezeugt im Wort Gottes. Das bedeutet nicht, dass man jedes Wort, das in der Bibel steht, einfach so als Beweis nehmen kann. Der Reformator Huldrych Zwingli hat gesagt, dass Gott uns durch Jesus Christus zu sich hinzieht.
Was bedeutet das für das Bibelverständnis?
Gott erfasst uns mit seinem Geist und seiner Liebe. Wenn wir in dieser Beziehung die Bibel lesen, dürfen wir erwarten, dass wir die Augen geöffnet bekommen für einen Sinn und eine Berufung in unserem persönlichen Leben, aber auch für die Armut und die Ungerechtigkeit.
Eine reformierte Kirche muss sich also immer in die Gesellschaft einbringen?
Reformierter Glaube heisst nie Rückzug. Zur reformierten Identität gehört der Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt. Ich soll nicht nur im Privatleben darauf achten, dass ich nicht lüge und betrüge. Als Reformierte muss ich auch versuchen, ungerechte Strukturen zu verändern.
Das klingt ziemlich anstrengend.
Ja, ich kann nicht einfach meine Party feiern, sondern muss mich engagieren für das menschliche Miteinander. Doch die Nachfolge Jesu ist hohe Schule. Damit Menschen dazu bereit sind, müssen sie auch einmal Party machen dürfen.
Und die Party kommt in der Kirche zu kurz?
Unbedingt. Zwingli sagte: Der Fromme lebt in der Liebe zur Gerechtigkeit fröhlich und frei. Engagement und Party gehören zusammen. Blicke ich nach Griechenland oder Kamerun, stelle ich fest, dass die reformierten Kirchen dort voll sind. Zugleich leisten die sehr kleinen Gemeinden einen unglaublichem Einsatz für Flüchtlinge oder arbeiten dafür, dass alle Kinder in die Schule können.
Was können die Zürcher Reformierten von solchen Minderheitenkirchen lernen?
Dass wir uns als Gemeinschaft verstehen und einander im Auge behalten, ohne zu richten. Es gibt hier Leute, die finden sogar den Kirchenkaffee überflüssig, weil man nach dem Gottesdienst sowieso nach Hause gehe, um über die Predigt nachzudenken. Dabei ist es doch wichtig, dass ich spüre, was meine Mitmenschen brauchen.
Ein solches Gemeinschaftsgefühl lässt sich nicht verordnen.
Aber wir können Freiräume dafür schaffen. In der Kirche will man zuerst einen Finanzplan, wenn jemand eine Idee hat. Wir sind überstrukturiert. Dabei hat es in der Erwachsenenbildung auch Platz für Atheisten, in der Diakonie sowieso. Mich interessiert zuerst nicht, ob jemand Kirchenmitglied ist, sondern ob sich die Person für die Sache einbringt.
Wie gehen Atheisten in kirchlichen Bildungsangeboten mit der von Ihnen postulierten Ausrichtung auf Christus zusammen?
Nehmen wir die Geschichten und Gleichnisse von Jesus ernst, führt dies immer zu einer offenen Kirche. Jesus setzte sich mit allen Menschen an einen Tisch.
Was erhoffen Sie sich vom Reformationsjubiläum in den Jahren 2017 und 2019?
Dass wir die reformierten Wurzeln neu entdecken. Die Leute wissen so wenig über die Reformation. Sie wollen mehr erfahren und stellen die richtigen Fragen: Wo stehen wir in der Ökumene heute? Warum wurden die Täufer verfolgt?
Das Gedenken beispielsweise an die Täuferverfolgung hat an der Feier Platz?
Die Verfolgung der Täufer vor allem nach der Reformation ist die Schuld unserer Vorväter. Zwingli selbst war befreundet mit den Täufern, er hat bis zuletzt um einen Kompromiss gerungen. Die reformierte Kirche hat sich 2004 für das Unrecht entschuldigt. Das war wichtig. Nun müssen wir einen Schritt weiterkommen und mit den Mennoniten die Zusammenarbeit suchen. Und wir sollten aufpassen, dass wir die damaligen Vorurteile gegen die Täufer nicht auf Freikirchen und Migrationskirchen übertragen.
Klingt das nicht etwas gar harmonisch? Es gibt doch schon theologische Differenzen.
Sicher. Zum Beispiel, dass wir Homosexualität aus christlicher Überzeugung nicht verurteilen. Aber mich stört diese reformierte Überheblichkeit. Wir fühlen uns Freikirchen intellektuell überlegen. Doch wir beziehen uns alle auf die Heilige Schrift und ziehen zuweilen unterschiedliche Schlüsse. Das ist das Risiko der Reformation. Differenzen, über die wir auch streiten sollen, dürfen uns nicht vom gemeinsamen Feiern abhalten.
Sie haben die Ökumene erwähnt. In grossen Fragen wie Amtsverständnis oder Abendmahl herrscht Stillstand. Stört Sie das?
Es ist völlig unglaubwürdig, dass die Katholiken und die Reformierten nicht gemeinsam das Abendmahl feiern können. Ich habe einen guten Freund in den USA, der inzwischen katholischer Theologe ist. Als wir Teenager waren, besuchten wir zusammen die Messe. Ich stand ganz selbstverständlich auf, um das Abend-mahl zu empfangen. Als er mir bedeutete, dass ich das nicht darf, war das ein Schock. Ich weinte.
Sich da anzunähern, ist mühsame Kirchendiplomatie. Lohnt sich der Einsatz, wenn an der Basis die Zusammenarbeit gut klappt?
Die theologische Kleinarbeit ist wichtig, weil die Trennung beim Abendmahl eine offene Wunde ist, die geschlossen werden muss. Sie soll uns in der Ökumene jedoch nicht daran hindern, brüderlich und schwesterlich alles gemeinsam zu tun, was möglich is