Der Koloss und seine Geister

Der Berg

Ein Berg namens Pilatus – da kommt einem Karfreitag in den Sinn. Aber wie hat es den Richter Jesu in die Mitte der Schweiz verschlagen? Eine Spurensuche.

Nicole Davi zischt, lärmt und trommelt. Mit einer Schar Kinder ist die Schauspielerin im Historischen Museum Luzern auf einer fiktiven Bergtour unter dem Motto «Sagen, Spuk, Pilatusdrachen» unterwegs. Im dunklen Raum saust an der Decke ein Drache über die verschreckten Kinderköpfe hinweg. Glutrot leuchten die Augen. Davi erzählt davon, wie das arme Bäuerlein Franz den Drachen zu seinem Horst auf dem Pilatus fliegen sah. Dabei sah er, wie der Drache ein Ei verlor. Ein wundersamer Stein, der die Menschen selbst von schlimmsten Krankheiten wie der Pest bewahrte.

Drachenberg. Der Pilatus-Drache beflügelt auch die touristischen Vermarkter des Bergs. In Alpnachstad, wo sich die steilste Zahnradbahn der Welt den Buckel hochwindet, flattern Drachen-Fahnen im Wind. Drachenembleme auf dem Ticket und auf den Waggons. In Englisch wird die internationale Touristenschar in der Dragon-Galerie und dem Dragon­shop empfangen. Drachen, überall Drachen. Auch der Reiseführer des kanadischen Ehepaars aus Ottawa erzählt die Drachengeschichte. Das Marketing mit dem feuerspeienden Lindwurm funktioniert. Fast eine halbe Million Fahrgäste wollten 2016 auf den Gipfel, davon die Hälfte aus dem Ausland. Oben auf der Terrasse entrollen Chinesen ihre Nationalflagge, um sich vor rotem Tuch und Alpenpanorama zu fotografieren.

Aber der Berg heisst nicht Drachenberg, sondern Pilatus. Kaum einer weiss indes, was es mit dem Namen auf sichhat. Natürlich kennt die Schauspielerin Nicole Davi vom Museum die Geschichte, will sie aber den Kindern nicht gleich verraten. Sie schleicht erst mit der Taschenlampe bewaffnet durch die dunklen Gänge des Museumslagers. «Kinder, ihr kennt ja die Brücken mit den Dreiecksbildern», sagt sie. Früher habe es eine dritte Brücke, die Hofbrücke, gegeben. Und neben Jesus sei Pontius Pilatus, der Statthalter von Palästina, ­eine der Hauptpersonen gewesen. Sieben Tafeln habe man ihm gewidmet. Er habe dem Berg seinen Namen gegeben.

Irgendwie biblisch. Die amerikanische Reiseführerin mit der grünen Flagge in der Hand auf dem Pilatus-Kulm vertritt dagegen eine andere These. «Mit dem biblischen Pilatus hat das nichts zu tun», erklärt sie. Der Name komme aus dem Lateinischen und bedeute übersetzt Säule. «Denn vor dem Gipfel sieht man oft ­eine Wolkensäule»,sagt sie. Der Sek-Lehrer mit seiner Klasse auf Schulreise zieht bei der Frage nach dem Namen Pilatus ebenfalls die Augenbrauen hoch. «Irgend­wie ist das biblisch», murmelt er. Aber warum es den römischen Richter von Jesus auf den Pilatus verschlagen hat, wisse er nicht.

Mittlerweile hat Nicole Davi im Museum das Geheimnis gelüftet. Pilatus sei vom Kaiser Tiberius ins Gefängnis gesteckt worden. «In seiner Zelle hat er sich umgebracht», sagt sie. Sein Leichnam sei anschliessend im Tiberfluss gelandet. «Dort wütete er, liess den Tiber über die Ufer treten und überschwemmte Rom.» Rasch wurde der unruhige Geist nach Südfrankreich abgeschoben, später an den Genfersee. Aber überall sorgte sein aufbrausendes Wesen für Naturkatastrophen. Schliesslich verbannte man ihn in ein kleines Seelein unterhalb des Mittaggüpfi, eines der Pilatushörner.

Muslimischer Musterschüler. Der mus­limische Schüler Dulnet Zeqiroska kennt die Geschichte auch. Er steht auf dem Esel, dem zweithöchsten Pilatus-Zacken. Auch dass es lange verboten war, den Berg zu besteigen, um nicht den unruhigen Geist zu wecken, erzählt er. Denn sonst hätte sich der friedlich dahinplätschernde Krienbach zum reissenden Fluss verwandelt und Luzern unter Wasser gesetzt. Dulnet ist ein begeisterter Pilatusgänger. Zum dritten Mal ist er in diesem Jahr auf den Berg gestiegen.

Auch der reformierte Naturforscher Konrad Gessner war 1555 be­geistert vom Bergerlebnis, wie bereits Vadian, der humanistische Gelehrte und Reformator St. Gallens, 37 Jahre zu­vor. Der reformierte Humanist, begleitet vom späteren Täuferführer Konrad Grebel und dem Luzerner Reformator Myconius, hatte eine Sondererlaubnis von der Luzerner Obrigkeit, um zum Pilatussee vorzudringen. Im Marschgepäck die Frage: Sind die Pilatusgewitter von Geisterhand ausgelöst worden? Vadian zog einen deutlichen Schlussstrich unter die magisch-volksfrommen Legenden: «Dass sich Pilatus alljährlich am Karfreitag hier in seiner Amtstracht auf dem See zeige, und dass derjenige, der ihn dann sehe, innert Jahresfrist sterben müsste, halte ich für sinnloses Geschwätz.»

Trotz der Entmythologisierung des Bergs brauchte es noch lange, bis die Lust zum Gipfelsturm aufkam. Denn Berg­steigen war kräftezehrend und schweisstreibend. Gessner, der in der Natur Gottes Schöpfung pries, blieb lange ein Unikum. Höchstens, man setzte sich, wie anno 1868 die englische Königin Victoria, auf einen Maultierrücken und liess sich bequem mitsamt der ganzen En­tou­rage auf den Berg tragen.

1889 krochen dann die Wagen, gezogen von einer Dampflok, den steilen Bergrücken hoch. Dank der von Eduard Locher ertüftelten Doppelzahnradbahn und einem ausgeklügelten Bremssystem machte sich das Transportmittel auf den Weg. Mit der Zahn­radbahn war es möglich, sogar Pas­sagen mit 48 Prozent Steigung zu überwinden. Diese Ingenieurskunst stellt auch der Zugführer seinen Fahrgästen vor Augen. «Damit Sie sich das vorstellen können: Bei zwei Meter Fahrt gewinnen wir fast einen Meter Höhe.»

Victoria statt Vadian. Das technische Wunderwerk hat auch das Kamerateam von «Channel 4» aus London auf den Berg gelockt. Aber dieses interessierte sich nur für historische Ingenieurtechnik und Königin Victoria. Die Reformatoren Vadian und Myconius werden in ihrem TV-Beitrag kaum Eingang finden. Auch nicht die sagenhaften Geschichten von Pontius Pilatus.

Aber immerhin Sven, Lukas, Giulia und Meret wissen nach der Theatertour mit Nicole Davi von den üppig wuchernden Erzählungen. Was indes am meisten erstaunt: wie sehr der 15-jährige Dulnet, Muslim mit mazedonischen Wurzeln, sich auf die christlich inspirierten Sagengeschichten seines Lieb­lingsberges einlässt.