Über Erwarten unterschätzt

Der Berg

Bergsteigen ist schön. Das fand schon 1555 der Gelehrte Konrad Gessner. Aber warum? Eine persönliche Suche bringt Antworten – und neue Fragen.

Damit es klar ist: Ich mag ihn. Auch wenn ich zuoberst am liebsten sofort wieder davongerannt wäre. Er beschäftigte mich intensiv, und er brachte mich in die Nähe von Grenzen. Als hätte er gewusst, dass er für unser Dossier herhalten soll als «der» Berg. Und sich händereibend gesagt: «Warte, Bürschchen, so einfach mach ich es dir nicht.»

Doch beim Vorbe­reiten meiner Erstbegehung lernte ich: Es gibt ihn gar nicht, den Pilatus. Er hat eine multiple Persönlichkeit. Mittagsgüpfi, Rottosse, Widderfeld, Tomlishorn, Oberhaupt, Esel, Rosegg, Steiglihorn heis­sen seine Gipfel. Unsere Wahl fiel also nicht auf einen simplen, «richtigen» Berg wie Matterhorn oder Niesen.

Im Sinnesparadies. Dieses Gipfelproblem kannte Konrad Gessner offensichtlich nicht. Selbstbewusst berichtet der «Schwei­zer Leonardo da Vinci», wie er auch genannt wird, in seiner «Beschreibung des Mons Fractus» bloss vom Pilatus, dem gebrochenen Berg. Er beschreibt als Erster die gleichzeitigen verschiedenen Jahreszeiten der Höhenstufen, listet akribisch die Pflanzenarten auf, schwärmt von Hirten und Milchspeisen – und von all den Sinneserlebnissen: der ermattete Leib wird von der Bergesluft «einzigartig erfrischt»; der Blick erfreut sich an Farben und Formen; das Gehör erquicken Spässe der Gefährten und der «allersüsseste Gesang der Vöglein»; die Nase ergötzt sich an den Düften und der «viel freieren und gesünderen Luft» als jener in den Städten.

Und das alles im Jahr 1555, als Gessners Heimat Zürich rund 5000 Einwohner hatte. Er war unterwegs mit einem «öffentlichen Diener» als Führer und Begleiter, wegen des Aberglaubens, dass niemand ohne «rechtschaffenen Mann aus der Mitte der Bürger» den Sumpf des Pilatus passieren dürfe. Und der Diener trug Wein mit. Doch was trieb Gessner eigentlich an?

Im Wald. Mein Ziel ist klar. Aber ich beneide Gessner ein bisschen. Mein Wasser schleppe ich selbst. Dazu etwas zu essen, mehrere Kilo Fotoausrüstung. Und ich habe nur einen Tag Zeit. Das Postauto brummt durch die wasserreichen Waldhänge hoch ins idyllische Eigen­thal. Knallgrüne Weidwiesen leuchten. Die frische Luft ist ein Labsal wie bei Gessner. Tief atmend schreite ich aus, vorerst flach ins Tal hinein. Dieser Duft neben dem Bach! Ein Bärlauchblütenteppich.

Tiefes Brummen auf dem Strässchen nebenan: In drei Lastwagenzügen wird noch lebendes Fleisch weggefahren. Vögel zwitschern, die Morgensonne blinzelt zwischen Zweigen. Den «umgänglichen und gastfreundlichen» Hirten Gessners begegne ich auf der Alp Unterlauelen. «Guten Morgen», rufen zwei Frauen, die Tische putzen. Hier gäbe es Speis, Trank und Bettruhe – ich eile weiter. Doch die Fotohalte und das Weitergehen wirken jetzt schon schweisstreibend.

Die Welt wird steiler. Eine Stufe zur Oberalp, durchsetzt mit Tannen, Heidelbeeren, Wasserfällen. Dann die sumpfigen Höhen mit Moorwald und toten Bäumen rund um den sagenumwobenen Pilatussee. Als guter Kartenleser habe ich das Gefühl, mit einer Abkürzung querfeldein hinzugelangen. Doch der scheints verlandete Ort entzieht sich mir. Warum verfehle ich ihn?

Am Hang. Umso mehr drängt sich der Berg auf. Der Hang, die Steigung. Die Sonne wirkt. Bloss noch niedere Büsche hier. Hübsche Blümchen. Irgendwo jauchzt jemand. Ich stolpere über einen hinterhältigen Stein, weil ich mich kurz umgeschaut habe. Weil mir der Schweiss in die Augen tropft. Hingelegte Zaunpfähle sagen, dass winters viel Schnee liegt – und Ruhe herrscht. «Schliesslich besonders die Stille der Einsamkeit» biete dem Gehör Wohlgenuss, schrieb schon Konrad Gessner. Wie wahr. Es lässt sich darin so schön die Seele baden. Begleitet vom eigenen Herz­wummern und fernem Flugzeugbrummen.

Gessners Gipfel, das Mittagsgüpfi, lasse ich rechts liegen.Mittagsrast auf dem Bergrücken, wo ich des Gelehrten Route verlasse und die Gratwanderung bis zum Esel in Angriff nehme. Warum unterschlug eigentlich der so scharfe Beobachter, dass er weitab des markant sichtbaren und gemeinhin als Pilatus geltenden Berges vom Gipfelglück durchströmt wurde?

Auf dem Grat. Zielgerichtet steuern Alpendohlen meinen Rastplatz beim knorrigen Tännchen an. Bald merken sie, dass es nichts gibt – ein Zwätschern, und weg sind sie mit ihren lässig-elegant in die Luft gelegten Kurven. Meine sind mühsam. Ich spüre die Hast und Last des Morgens. Mag nicht mehr wie üblich. Kein Schatten, stetes Steigen. Bis weit oben der Weg dann in die Nord­flanke führt.

Spätwinter herrscht hier:Zwischen Schründen, bodenlosen Abhängen, Felsüberhängen behaupten sich Soldanel­len und Schlüsselblümchen. Kein Schritt darf danebengehen. Eine Kette verleiht Halt. Aber hält sie? Und warum wird ein Weg, den ich in der Ebene ohne geringstes Zögern beschreite, auf einem luftigen Grat zum magenaufwühlenden Zittergang?

Der Gipfel. Hochgefühl, Erleichterung, Erhabenheit, Genuss: Solches stellt sich normalerweise ein, wenn ich aus eigener Kraft oben ankomme. Eine innere Grösse im Kleinen und eine tiefe Demut für das Grosse rundum zugleich. Denn der Berg schont nicht: Fehler haben unmittelbar Folgen, Erfolge wirken wie Drogen.

Doch auf dem Tomlishorn, 2128 Meter über Meer, ist das Gefühl seltsam durchwirkt. Ich bin viel erschöpfter als erwartet. Müde von allem. Und nun kommen von der Pilatusbahnstation her Gross, Klein, Alt und Jung hierher. Auf einem spektakulären und gut ausgebauten Weg. Zuoberst stehen Bänke, eine sichernde Absperrung. Die Pflanzen sind mit Täfelchen versehen. Ein leuchtendes Schild warnt vor alpinen Gefahren.

Rund um Oberhaupt und Esel geht es erst recht los: babylonisches Sprachgewirr, ausgestreckte Arme zum Zeigen und Selfies machen, schallendes Lachen, stumpfes Dasitzen, Selfservice, Souvenirshop, Nobeluhren. Auf der Abfahrt mit der angeblich steilsten Zahnradbahn der Welt werde ich zum Fotosujet eines herzlich-netten älteren Paars aus Colorado. Ich schaue auf das fürchterlich schmale und alte Trassee, das sich in der Falllinie in den Berg legt. Und frage mich: Wem vertraue ich eigentlich mehr, dem Menschen oder dem Berg?