«Bergsteigen ist ein Extrem der Freiheit»

Der Berg

Philippe Woodtli ist Bergführer und Pfarrer. Er sagt, weshalb der Pilatus kein Berg ist und warum er Gott an vielen Orten sucht, nur nicht auf dem Berg.

Was ist der Pilatus für ein Berg?

Philippe Woodtli: Aus der Optik eines Bergführers wirkt es seltsam, den Pilatus als beispielhaften Berg zu betrachten. Touristisch ist er interessant, er rangiert in der gleichen Liga wie der Niesen in Spiez oder der Säntis. Da sind grössere Orte in der Nähe, es fahren Bahnen hoch, es gibt diverse Wege, ein grosses Restaurant, vie­le Touristen. Aber kein Bergsteiger nimmt den Pilatus als Berg wahr.

Welcher Berg wäre denn für Sie der Berg schlechthin?

Keiner. Auf einige gehe ich lieber als auf andere, einige sind von Weitem schöner als von Nahem, und je nach Wetter- und Schneeverhältnissen kann der gleiche Berg völlig unterschiedlich sein. Vielleicht träumen Bergsteiger bisweilen von einem bestimmten Berg, aber wenn sie ihn bestiegen haben, folgt ein anderer. Keiner sagt: Jetzt habe ich den ultimativen Berg bestiegen, jetzt höre ich auf damit. Hier in den Alpen begeht man sowieso eher eine bestimmte Route als einen bestimmten Berg. Es macht einen Unterschied, ob Sie den Eiger durch die Nordwand oder über die Westflanke besteigen. Beide Routen führen auf den Eiger, aber sie trennen Welten.

Sie sind Bergführer und Pfarrer. Vor Ihnen waren bereits eine Reihe von Pfarrern Erstbesteiger oder grosse Naturforscher.

Ich bin kein bergsteigender Pfarrer. Ich bin Bergführer. Und ich bin Pfarrer. Das sind zwei unterschiedliche Berufe. Ich komme aus einer sehr leistungsorientierten Kletterszene, Ende der Achtziger. Wir fragten: Welches sind die schwierigen Routen? Dabei hat uns nicht historisch interessiert, wer die Route erstbegangen hat, auch über Botanik und Geologie wussten wir wenig. Wir wollten einfach nur hoch und wieder runter. Wie viele Kollegen habe ich meine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Aber ich musste lernen, dass es etwas völlig anderes ist, Bergführer zu sein. Als Bergführer stelle ich mich in den Dienst meiner Kunden.

Warum wurden Sie kein Profibergsteiger?

Das war damals keine Option. Es gab nicht die Möglichkeit, Bergsteigen medial zu vermarkten. Auf mich wirkt das alles ein wenig eigenartig, fast schon pornografisch: nur zuschauen, aber es selbst nicht machen. Zudem hat sich das Leistungsniveau in der professionellen Kletterszene rasant beschleunigt. Ende der Achtzigerjahre waren wir noch nah dran an den Besten, fünf Jahre später waren uns die Besten weit voraus.

Sind Sie immer noch so leistungsorientiert?

Nein. Ich heiratete, gründete eine Familie und wurde Pfarrer. Denn Bergführer ist eine familienfeindliche Profession, man ist 200 Tage im Jahr weg. Heute gehe ich mit viel offeneren Augen auf Berge, ich verstehe sogar inzwischen etwas von Geologie. Das ist faszinierender, denn es entstehen mehr Eindrücke. Früher waren die Berge für mich ein Abenteuerort, heute eher ein Abenteuerspielplatz. Das Spielerische hat für mich etwas Positives. Ich gehe heute nicht mehr ans Limit.

Es gibt Pfarrer, die bieten spirituelle Wanderungen in den Bergen an.

Ich finde Wandern langweilig. Und spirituelles Wandern stelle ich mir besonders langweilig vor. Am letzten Dienstag stieg ich von der Mutthornhütte ab, es ist eine wilde Landschaft dort, wenigstens eine Stunde lang. Kein Zivilisationslärm, nur der Lärm der Berge: Wasser rauscht, Wind geht. Das hat schon das Potenzial, dass man innehalten kann, weniger abgelenkt ist durch das Übliche. Trotzdem kann ich auch hier nichts Spirituelles emp­finden. Es ist zu aufregend, man muss den Weg finden. Ich bin wohl zu sehr ein biblisch geprägter Theologe.

Und welche Berggeschichte gefällt Ihnen in der Bibel besonders?

Da fällt mir jetzt keine ein. In der Bibel geht es ohnehin nicht um Berge im alpinistischen Sinn. Das sind eher staubige Hügel, auf die Abraham steigt, als er seinen Sohn Isaak opfern soll, oder wo Mose die Zehn Gebote empfängt.

Dass Mose auf den Berg steigt, ist Zufall?

Natürlich nicht. Er brauchte seine Ruhe. Aber Berg bedeutet hier in erster Linie Rückzug.

Und wenn Sie unterwegs sind in den Bergen, spüren Sie keine besondere Nähe zu Gott, der Sie vielleicht vor den Gefahren der wilden Natur beschützt?

Ich suche Gott nicht auf dem Berg, sondern in geglückten Beziehungen zu Menschen. Deshalb ist Gott ja auch in Christus Mensch geworden und kein Berg. In den biblischen Texten, die mir besonders wichtig sind, geht es deshalb immer um Beziehungen zu Gott: Abraham, der in ein fremdes Land aufbricht, Jakob, der mit dem Engel kämpft, oder das Gleichnis Jesu vom Verlorenen Sohn. In den Alpen bin ich nicht spirituell unterwegs. Ich würde sogar behaupten, dass man ohne Anleitung keine spirituelle Erfahrung macht in den Bergen. Der Anstoss muss von aussen kommen.

Und wenn Sie von einer gefährlichen Tour heil zurückkommen?

Vielleicht ist manchmal ein Schutzengel dabei. Ich habe erlebt, dass es richtig gefährlich wurde, aber war dann eher schockiert. Und es blieb für mich immer in der Kategorie: Glück gehabt, das hätte auch schiefgehen können.

Bergsteigen ist gefährlich. Extremberg­steigen ist extrem gefährlich. Ist Bergsteigen «Gott versucht»?

Das ist Quatsch. Die Aussage ist theologisch völlig sinnlos. Wir können Gott nichtversuchen. Wenn schon, ist es umgekehrt. Deshalb beten wir ja auch im Unservater, Gott möge uns nicht in Versuchung führen. Am Berg stellt sich jedoch ganz klar die Frage nach der Verantwortung. Bergsteigen ist eine extreme Variante, Freiheit zu leben, weil es völlig sinnlos ist. Ich steige auf einen Berg und komme wieder zurück. Fertig.

Und es war auch noch anstrengend.

Genau. Wobei – in diesem Leiden liegt ja für viele der Sinn. Jedenfalls macht die Zweckfreiheit das Bergsteigen erst zu dieser beinahe absoluten Freiheit. Und wie immer stellt sich dann die Frage, wie weit meine Freiheit gehen darf.

Wie weit geht die Freiheit?

Eine allgemein gültige Grenze gibt es nicht. Sie ist eine Frage der Abmachung.Wenn man die Regeln der Gesellschaft, in der man lebt, verletzt, ist die Grenze überschritten.

Was heisst das konkret?

Ein Familienvater macht ab, dass er sein Leben nicht riskiert. Wenn er jetzt auf ­eine Tour geht, die für seine Möglichkeiten zu anspruchsvoll oder objektiv gefährlich ist, überschreitet er die Grenze des Zulässigen. Für Extrembergsteiger gelten jedoch ganzandere Regeln. An der Gedenkfeier für Ueli Steck haben sie den Satz zitiert: «Lieber ein Tag als Tiger leben als hundert Jahre als Schaf.» Das ist eine Abmachung, die ich so heute sicher nicht mehr treffen würde. Aber ich bleibe dabei: Die Freiheit findet ihre Gren­ze in der Abmachung.

Und Freiheit als Abmachung funktioniert?

Als Pfarrer begegne ich leider oft einer anderen Realität. Über die Grenzen der Freiheit wird zu wenig gesprochen. An Abdankungen für Menschen, die in den Bergen verunglückt sind, höre ich selten, es sei in Ordnung so. Eher das Gegenteil.

Philippe Woodtli, 53

Der gelernte Zimmermann, Bergführer und Pfarrer war bis 2016 Geschäftsleiter des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und wohnt in Gränichen.