Die Königin der Instrumente kämpft mit ihrem Image

Kirchenmusik

Die Orgel gilt als verstaubt. Die Dübendorfer Organistin Yun Zaunmayr will das ändern, indem sie schon kleine Kinder an die Orgel setzt. In China erlebt das Instrument einen Boom.

Präzise erklingen die ersten Töne, kurz darauf erfüllt ein donnernder d-Moll-Klangteppich die reformierte Kirche Wil in Dübendorf. Der Beginn von Bachs Toccata ist an Dramatik und Virtuosität kaum zu überbieten. An diesem Stück messen Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt ihr Können. An der Orgel in der Dübendorfer Kirche sitzt ein schmaler Junge mit asiatischen Gesichtszügen im grauen Adidas-Hoodie. Seine Füsse stecken in dunklen Halbschuhen. Wie von allein finden sie den Weg über die Pedale, während die Hände über die Tasten der Klaviaturen, der sogenannten Manuale, gleiten.

Jamie Deng ist zwölf Jahre alt und übt für den Final des Schweizerischen Jugendmusikwettbewerbs. Vor dem Spieltisch, an dem er Tasten und Pedale bewegt und Register für die Klangfarben zieht, läuft die Dübendorfer Organistin Yun Zaunmayr auf und ab, in einer Hand die Noten, mit der anderen gibt sie Einsätze und Taktschläge vor.

Ein Pedalaufsatz für Kinder

«Die Orgel ist wie ein Orchester, im Vergleich zum Klavier kann ich viel mehr machen», sagt Jamie nach dem Unterricht. Zaunmayr sagt: «Die Orgel gilt als verstaubt, als ein Instrument für alte Leute. Wir müssen das Image der Orgel ändern.» Es gibt wohl kaum ein Instrument, bei dem das öffentliche Bild und die Wahrnehmung derer, die es spielen, so auseinanderklaffen. 

Yun Zaunmayr tut viel für das Image ihres Instruments. Sie setzt schon die Kleinsten an den Spieltisch. Etwa die sechsjährige Yuki, die nach Jamie den Unterricht besucht. Damit Kinder wie das zierliche, kleine Mädchen mit den Füssen an die Pedale kommen, hat die 37-Jährige zusammen mit dem Luzerner Orgelbauer Goll einen Holzaufsatz entwickelt.

Auch ihre Klavierschüler und -schülerinnen von der örtlichen Musikschule können wählen, ob sie im Unterricht auf der Orgel oder dem Flügel spielen, der nur ein paar Meter entfernt im Kirchenraum steht. Und Zaunmayr hat einen Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem Komponisten Orgelstücke für Kinder einreichen können.Im Kern geht es ihr um Nachwuchsförderung und indirekt um die Zukunft des Instruments. Denn wird die Orgel primär als Kircheninstrument wahrgenommen, droht sie auf Dauer an Bedeutung zu verlieren.

«Star Wars» und Passion

Diese Sorge treibt auch Tobias Willi um. An der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) lehrt er Orgel und beobachtet eine gewisse Zurückhaltung bei den Studierenden. In den  «goldenen Zeiten» der 70er- und 80er-Jahre hätten Dozenten jeweils zehn Studierende im Hauptfach Orgel unterrichtet. Mittlerweile seien es eher halb so viele. Allerdings gebe es heute noch berufsbegleitende Weiterbildungsstudiengänge, die Kirchenmusik und Orgelspiel beinhalteten. Mit Blick auf die Zukunft des Berufsbildes ist Willi verhalten positiv: Noch sei kein grösserer Stellenabbau bei Organisten und Organistinnen zu beobachten. «Aber mit den Kirchgemeindefusionen ist zu befürchten, dass dann doch Stellen verschwinden werden.»

Umso wichtiger ist es Willi, dass die Orgel auch als Konzertinstrument wahrgenommen wird. Natürlich sei ein gewichtiger Teil des Repertoires kirch-lich motiviert. «Aber es gibt auch konzertante Musik ohne religiösen Kontext.» Den Bau neuer Konzertsaalorgeln, etwa im Basler Casino oder der Zürcher Tonhalle, sehen Willi und Zaunmayr als ein Bekenntnis der Musikwelt zum Instrument. Überhaupt lasse sich alles mit der Orgel spielen: Jazz, Pop, selbst die «Star Wars»-Filmmusik.

Willi zeigt, wie abwechslungsreich die Orgel ist, indem er ab und zu Stummfilme an der Orgel begleitet. Zugleich sieht er im kirchlichen Repertoire Chancen, Kirchenferne zu erreichen. «Kirchenmusik wird als Ausdrucksform der Spiritualität oft fraglos akzeptiert.» Sie öffne die Tür zu existenziellen Fragen, behandle Themen wie Verrat oder Sterben. Willi denkt dabei zum Beispiel an Bachs Matthäus-Passion. 

Dass Orgelmusik die Tür zur Spiritualität öffnen kann, hat Yun Zaunmayr selbst erlebt. Aufgewachsen in Schanghai, kam sie erst im Studium in Wien mit dem Christentum in Kontakt, Jesus war für sie «eher eine Art Märchenfigur». Aushilfsjobs als Organistin zwangen sie, auf Tuchfühlung zu gehen.

Die komplexe katholische Liturgie war zuerst eine Herausforderung. «Der Pfarrer hat mich immer freundlich angeschaut, um mir zu sagen, wann ich spielen soll», erzählt sie. Durch die unzähligen Predigten, die sie anhörte, verbesserte sie ihre Deutschkenntnisse. «Dann kam der Glaube in mein Leben und blieb.» Ihre zwei Kinder liess sie taufen, das Vaterunser bezeichnet sie als ihr Lieblingsgebet. «Als Konzertorganistin wäre der religiöse Hintergrund nicht nötig, aber will man Kirchenmusik machen, muss man schon wissen, worum es geht.»

Der Klang kam von oben wie ein Wasserfall, nicht von unten wie bei der Elektroorgel. Dazu diese Kirchenakustik, es war eindrucksvoll.
Yun Zaunmayr, Organistin

Auch Kirchen- und Konzertorgeln lernte sie erst in Europa kennen, in China hatte sie auf einer elektronischen Orgel gelernt, grosse Orgeln gab es vor 20 Jahren dort kaum. An einem Meisterkurs in Kitzbühel sass Zaunmayr zum allerersten Mal am Spieltisch. «Der Klang kam von oben wie ein Wasserfall, nicht von unten wie bei der Elektroorgel. Dazu diese Kirchenakustik, es war eindrucksvoll.»

Dass Zaunmayr in der Schweiz landete, hat damit zu tun, dass man hierzulande vom Organisten-Gehalt noch leben kann und dass die Gemeinden ihre Instrumente sehr gut pflegen. In Dübendorf spielt sie auf einer Orgel mit 2364 Pfeifen, drei Manualen und einer elektronischen Setzeranlage, mit der sich die Register programmieren lassen.

Mittlerweile hätte Yun Zaunmayr auch in ihrer Heimat Chancen auf ein ähnliches Instrument. In China bauen immer mehr christliche Gemeinden Kirchen, eine Orgel – oft von einem europäischen Orgelbauer – sei dabei Pflicht. Gleiches gelte für neue Konzertsäle, erzählt Zaunmayr. Die Orgel, die in Europa mit ihren Imageproblemen kämpft, erlebt in China zurzeit einen regelrechten Boom.

Die älteste Orgel der Schweiz steht in Sion

Die Orgel ist in Deutschland zum Instrument des Jahres 2021 gekürt worden. Der Mechaniker Ktesibios (285–222 v. Chr.) aus Alexandrien gilt als 
ihr Erfinder. Das Grundprinzip: Der Klang entsteht bei gleichmässigem Winddruck durch Metallpfeifen. Weil die Orgel mehrere Stimmen gleichzeitig spielen kann und sich über Register auch noch die Klangfarben verän-
dern lassen, wird sie oft als «Königin der Instrumente» bezeichnet. Jede 
Orgel ist ein Unikat und wird für den Raum gebaut, in dem sie steht. Die Zürcher Orgellandschaft stammt grösstenteils aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Barock, der Blütezeit des Orgelbaus im 17. 
und 18. Jahrhundert, sind kaum Orgeln erhalten. Das hat mit der Reformation Huldrych Zwinglis zu tun. Im Gottesdienst sollte es nicht um ein von Priestern vollzogenes Ritual, sondern um das Hören auf das göttliche Wort gehen. Alles, was davon ablenkte, wurde abgeschafft, auch die Orgel. Erst 1809 erklang in der Stadtkirche von Winterthur erstmals seit der Reformation wieder eine Orgel. Die älteste Orgel der Schweiz steht in der Basilique de Valère in Sion, sie stammt aus dem 15. Jahrhundert. Die grösste Orgel geht auf ein Instru-
ment von Friedrich Goll von 1876/77 zurück und steht im Kloster Engelberg. Die grundsätzliche Funktionsweise 
der Orgel hat sich kaum verändert. Neuerungen gab es primär bei elektronischen Anlagen zur Steuerung von Registern. Um zusätzliche Klangfar
ben zu erhalten, wird mit elektronischen Modulen oder der Veränderung des Winddrucks experimentiert.