«Orgel zu spielen, ist eine Art Tanz»

Kirchenmusik

Nach 16 Jahren geht Münster-Organist Daniel Glaus in den Ruhestand – wenn auch noch nicht ganz. «Jede Orgel hat ihre eigene Persönlichkeit», sagt er.

Herr Glaus, wie fühlt es sich an, nach 16 Jahren einen Arbeitsort wie das Berner Münster zu verlassen?

Daniel Glaus: Das Münster ist für mich ein Lebensort. Ich habe mich auch mit den sechs Orgeln hier angefreundet. Eigentlich ist es mehr als eine Freundschaft. Es schmerzt mich schon, sie zu verlassen.

Sie können sie nicht mitnehmen …

Dazu fällt mir eine schöne Episode aus meinem Abschiedsgottesdienst ein: Die Eingangsmusik spielte ich an der Schwalbennest-Orgel. Mein dreijähriger Enkel sass mit seinen Eltern im Münster und sah mich oben sitzen. Sie haben einen Bauernbetrieb im Emmental und sind in einer Ländlerformation. Der Dreijährige kennt also Handorgeln und wusste, dass auch ich Örgeli spielen werde. Als ich auf das Ausläuten der Glocken wartete, fragte er seine Eltern besorgt, ob denn Grossätti zu schwach sei, um das Örgeli auf die Knie zu nehmen.

Beim Orgelspiel ist man körperlich sehr mit dem Instrument verbunden.
Daniel Glaus

Wie würden Sie Ihre Beziehung zu den Orgeln beschreiben?

Es ist fast wie eine Beziehung zu einem Menschen. Beim Orgelspiel ist man körperlich sehr mit dem Instrument verbunden. Als der Abschied näher rückte, spürte ich vor allem von der Hauptorgel, dass etwas zurückkommt. Für mich fühlte es sich an, als ob meine Hand geführt würde. Als ob die Orgel auch von mir Abschied nehmen würde.

Sie werden aber das Orgelspiel nie ganz aufgeben?

Nein, ich kann nicht ohne das Orgelspiel sein. Es wäre auch nicht gut, von einem Tag auf den anderen mit dem Üben und Spielen aufzuhören. Es ist ähnlich wie bei einem Spitzensportler, der am Ende seiner Laufbahn das Training langsam abbauen muss. Das Orgelspiel ist auch wichtig für meine mentale Fitness. Es stehen noch Konzerte an, ich werde dranbleiben.

Wie sind Sie seinerzeit eigentlich auf die Orgel gekommen?

Meine Mutter sang in einem kirchlichen Singkreis und nahm mich als Kind mit. Die Organistin zeigte mir die Orgel, und ich wusste: Das ist mein Instrument. Zuerst musste ich mich aber der Blockflöte widmen. Als ich mir – in der fünften Klasse – auf einer Kommode mit Karton eine Orgelklaviatur bastelte und «übte», fanden meine Eltern, vielleicht meint er es tatsächlich ernst.

Daniel Glaus, 65

Der Münster-Organist hat die Verantwortung an seinen Nachfolger Christian Barthen (38) übergeben. Ganz 
von seinen Orgeln Abschied nehmen muss Daniel Glaus nicht: Man wird 
ihn weiterhin im Münster antreffen beim Üben oder Unterrichten seiner Studierenden. Als nun freischaffender Musiker möchte sich Glaus der Musik 
«in ihrer ganzen Breite» widmen und viel Zeit mit seiner Familie verbringen.

Was fasziniert Sie so an der Orgel?

Die Orgel ist eine hyperkomplexe Maschine, sozusagen ein mechanischer und analoger Vorläufer des Synthesizers. Ein Spieler kann ein ganzes Orchester imitieren, unendliche Klangfarben produzieren und mehrere Stimmen gleichzeitig erklingen lassen. Ein wichtiger Teil ist auch die Atmung. Die Orgel selber ist ja ein Blasinstrument. Man muss selber richtig atmen, aber auch sie atmen lassen. Das Faszinierende ist, durch «Ertasten» diese ganze Maschinerie in Bewegung zu setzen, in Klänge zu verzaubern und damit Menschen und ihre Seelen berühren zu können.

Der Gottesdienst seine Wirkung erst als Gesamtkunstwerk entfalten.
Daniel Glaus

Wie wichtig ist dabei der eigene Glaube?

Wer ernsthaft Kirchenmusiker sein will, sollte zumindest interessiert sein an der Bibel mit ihren vielen, zum Teil völlig divergierenden Büchern. Als Kirchenmusiker sind die Diskussionen mit den «Wort-Menschen», also dem Pfarrteam, zentral. Der Gottesdienst kann meines Erachtens seine Wirkung erst als Gesamtkunstwerk entfalten.

Orgelspielen wirkt körperlich anstrengend. Treiben Sie Sport?

Die Orgel ist mein Fitnessstudio! Ich empfinde allerdings das Spielen nicht als sehr anstrengend, sondern eher als akrobatisch. Orgelspielen ist eine Art Tanz.

Gibt es Musik, die im Münster nicht gespielt wird?

An Hochzeiten und Abdankungen wird nur unverstärkte Livemusik gespielt. In Räumen wie dem Münster mit komplexem Nachhall haben sogar Soundtechniker mit den Tücken der Verstärkung zu kämpfen.

Gerade in der heutigen, lärmigen Zeit würde es uns allen guttun, vermehrt die Ohren zu öffnen, in das Stille zu lauschen.
Daniel Glaus

Könnten Sie auf der Orgel jedes gewünschte Musikstück spielen?

Theoretisch schon, aber nicht jedes Stück würde gut klingen. Der Resonanzkörper der Orgel ist der ganze Raum. Man sitzt im Klang. Deshalb ist es auch nicht wichtig, dass man den Organisten sehen kann. Es ist eine Tendenz, dass Leinwände aufgestellt werden, damit man die Person an der Orgel sieht. Das finde ich unnötig. Gerade in der heutigen, lärmigen Zeit würde es uns allen guttun, vermehrt die Ohren zu öffnen, in das Stille zu lauschen. Allenfalls würden wir dann auch wieder mehr darauf achten, was zu uns gesagt wird, und zwar nicht nur von denen, die am lautesten brüllen.

Gibt es eine Orgel, auf der Sie unbedingt noch spielen möchten?

Ich habe auf unzähligen Orgeln spielen dürfen, auch auf sehr berühmten wie in der St Paul’s Cathedral in London, in der Notre-Dame de Paris, im Dom in Riga oder in der Thomaskirche in Leipzig. Für die Zukunft freue ich mich jetzt auf jedes weitere Konzert an Orgeln, die ich kennenlernen oder denen ich wiederbegegnen darf, und seien sie noch so klein. Jede Orgel hat ihre Persönlichkeit, die zu entdecken mir immer wieder Freude bereitet.

Gibt es ein Orgelwerk, das Sie besonders beschäftigt?

Ja, die Passacaglia von Bach: ein unheimlich faszinierendes Werk. Es ist mir ein Rätsel, wie Bach in jungen Jahren ein solches Meisterwerk komponieren konnte. Seit meinen Studienjahren begleitet es mich. Auch als Komponist habe ich mich damit auseinandergesetzt. Am Berner Münster habe ich die Passacaglia im gottesdienstlichen Rahmen insgesamt 33-mal aufgeführt in einer immer wieder anderen Interpretation sowie Registration. Die Zahl 33 ist dabei werkimmanent: 21-mal wird das Passacaglia-Thema durchgeführt, zwölf-mal erscheint es als Fugenthema.

Was hat neben Ihrer grossen Leidenschaft fürs Orgelspiel in Ihrem Leben sonst noch einen wichtigen Platz?

Mich beschäftigt die Musik in ihrer ganzen Breite. Das Orgelspiel ist nur ein Teilbereich davon. Ich verstehe mich als Musiker, aber auch als Komponist, Organist, Dirigent, Pädagoge, Veranstalter und Forscher. Dazu interessiere ich mich für Natur- und Geisteswissenschaft, für Zahlen, für Literatur, Kunst, Architektur, für Menschen, für die Umwelt, für Schmetterlinge, für Bäume und ihre Kommunikationssysteme, für das Atmen der Steine, für das Transzendente. Mit meiner Frau bin ich gerne in den Bergen unterwegs. Ausserdem freue ich mich, mehr Zeit zu haben für meine sechs Enkelkinder. Ich möchte Anteil daran nehmen, wie jedes von ihnen auf seine eigene Art und Weise die Welt entdeckt – hoffentlich eine lebenswerte Welt.

Ein Buch über Glaus

Zum Abschied von Münster-Organist Daniel Glaus ist ein Buch erschienen:

Hp. Renggli (Hrsg): «hören – tasten – atmen. Daniel Glaus, Komponist, Organist, Pädagoge», Bern 2022, ISBN 978-3-905760-21-5