«Wir Synästhetiker können Farben hören, riechen, schmecken oder Schmerzen als Farben fühlen. Jeder Synästhetiker und jede Synästhetikerin hat eine andere Ausprägung oder nimmt Dinge anders wahr.
Die Synästhesie ist ein neurologisches Phänomen, das bei der Wahrnehmung eines Sinnes einen anderen Sinn anregt. Während Andere Formen oder Buchstaben beispielsweise schmecken, nehme ich Zahlen und Buchstaben in verschiedenen Farben wahr. Konkret bedeutet das, wenn ich eine Zahl lese oder an sie denke, assoziiere ich diese immer mit einer Farbe: die Zahl 1 ruft ein Winterweiss hervor, die 2 Gelb, die 3 Hellgrün, die 4 Orange, 5 Rot, 6 Hellblau, 7 ein helles Lila, die 8 ist knallblau, 9 braun, die 10 eher grau.
Der hellblaue Juni
Die Art der Sinneswahrnehmung habe ich schon, seit ich Kind war. Ich weiss nicht, wann dies begann, und habe das nie als etwas Spezielles empfunden. Dieser sogenannte andere Blick, eben bei mir mit Farben, ist für mich ganz normal.
Wie der Alltag ohne diese Farben ist, weiss ich nicht. Schliesslich kenne ich es nicht anders. Anderen Menschen fällt dies auch kaum auf. Höchstens, wenn ich mich mal verspreche und statt Zwei die mir dazu assoziierte Farbe Gelb oder statt Rot die Zahl Fünf nenne.
Diese Farbzuordnungen haben sich im Lauf der Jahre nicht verändert. Ich habe sie nicht nur bei den Zahlen, sondern auch bei den Vokalen, Wochentagen und Monatsnamen: A ist für mich blau, E gelb, I weiss, O schwarz und U dunkelbraun. Das heisst nicht, dass ich, wenn ich lese, den Text als farbige Buchstaben vor mir sehe, sondern die Farben erscheinen vor meinem inneren Auge. Interessanterweise korrellieren die Monate meist mit den Nummern. So ist der Monat Juni in meiner Wahrnehmung wie die Zahl 6 hellblau, oder der September braun, wie die Zahl 9 ja auch.
Farbige Musik wäre schön
Das spielt sich alles unbewusst ab. Und wenn ich anderen von meiner Wahrnehmung erzähle, stellt sich immer wieder heraus, dass auch andere Menschen dieses neurologische Phänomen erleben.
Eine Krankheit ist die Synästhesie sicher nicht. Ich erlebe sie als eine Sinneserweiterung, als eine Erweiterung des Erlebten. Und es ist eine Art Begabung, die mir zum Beispiel hilft, wenn ich eine neue Sprache lerne. So merke ich, dass ich ein neu erlerntes Wort falsch ausspreche, weil es vor meinem inneren Auge falsch aussieht.
Die Synästhesie hilft mir auch dabei, mich an Dinge zu erinnern. Etwa wenn ich mit Menschen aus Bern zu tun habe, dann assoziiert dies in mir die Farbe Grün, da im Kanton Bern die Postleitzahlen alle mit einer Drei beginnen. So kann es vorkommen, dass ich mich an Menschen, die mir begegnet sind, besser erinnere, weil ich bei einem Wiedersehen sofort eine bestimmte Farbe mit ihnen in Verbindung bringe – nicht nur ihre Herkunft.
Die Sinneserweiterung hilft der Erinnerung
Die Synästhesie hilft mir ausserdem bei meinen persönlichen Erinnerungen. Meine Vergangenheit sehe ich innerlich auf einem Zeitstrahl. Ob ich etwas vor fünf Jahren oder vor 30 Jahren erlebt habe, liegt auf dem Zeitstrahl an einem ganz anderen Punkt und somit in meiner Vorstellung weiter weg. Dieser Zeitstrahl ist nicht gerade, sondern windet sich vor meinem inneren Auge durch die Jahrzehnte.
Ich hätte nichts einzuwenden, wenn meine Synästhesie in der Musik ausgeprägter wäre. Ich liebe den Gesang. Als Operettensängerin singe ich jedes Jahr in verschiedenen Produktionen. Oft assoziiere ich mit den Musikstücken auch eine Farbe. Das hält sich aber in Grenzen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Musik noch intensiver erlebt werden kann, wenn sie mit Hören und Sehen gleich zwei Sinne anregt. Das stelle ich mir fantastisch vor.»