Von ungelesenen Lippen und willkommener Distanz

Die Maske

Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung sind durch die Maskenpflicht besonders eingeschränkt. Aber auch bei der Arbeit hat die Verhüllung ihre Tücken. Verstehen wird schwieriger.

Maske auf, ab in den Zug, in den Supermarkt oder ins Büro – und gut ist. Was für viele unterdessen zur Routine geworden ist, bleibt für man­che Menschen ein Problem. Urs Ger­mann ist Historiker und lebt seit seiner Kindheit  mit einer hochgradigen Hörbeeinträchtigung.

Er ist darauf angewiesen, von den Lippen seines Gegenübers able­sen zu können. «In einem lärmigen Umfeld bin ich durch die Maske stark gefordert», erklärt der Mitarbeiter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Zwar nehme etwa die Verkäuferin in der Apotheke die Maske kurz ab, um ihm Informationen zu geben. Wenn aber, wie beim Coiffeur, sowohl das Lippenlesen als auch die Hörhilfe als Unterstützung wegfallen, dann sei es ihm unmöglich, verbal zu kommunizieren. Selbst mit Masken, die mit einer Art Fenster den Mund sichtbar machen, seien nicht alle Probleme gelöst. «Es braucht nicht nur die Lippen, um zu verstehen. Das ganze Gesicht ist dabei entscheidend.»

Die Mimik fehlt

Mit der Maske fühlt sich auch die Logopädin Sibylle Wyss-­Oeri verun­sichert, was die nonverbale Kommunikation betrifft. «Mir fällt es schwer, ohne meine eigene Mimik in Kontakt zu treten», berichtet sie. Über den Gesichtsausdruck schaffe sie normalerweise in den Sitzungen ein heiteres, vertrauensvolles Klima. Auch sei es nicht möglich, Zungen- oder Lip­penbewegungen vorzumachen. Des­wegen habe sie eine Plexiglas-Scheibe installiert, die eigens für logopädische Behandlungen hergestellt wurde. Das Türchen im Glas, durch das Objekte durchgereicht würden, mache Kindern zwar Spass, aber für sie als Logopädin sei die Arbeit schwieriger. «Und jetzt, da alle Kinder ab zehn Jahren eine Maske tragen müssen, ist es erst recht problematisch.»

Seit der Maskenpflicht wird einem mehr denn je bewusst: Hören, verstehen und verstanden werden sind hochkomplexe Vorgänge. Und dort, wo sie zentral sind, etwa in der Schule, sind Schutzmasken hinderlich. «Natürlich gewöhnt man sich daran und findet trotz Singverbot attraktive Alternativen», sagt der Musiklehrer Dieter Schürch, «aber die Kommunikation wird um einiges komplizierter.»

Zu wenig Luft

Er unterrichtet Gymnasialklassen von 25 Schülerinnen und Schülern in akustisch anspruchsvollen Räumen. Durch die Maske müsse er lauter sprechen, so Schürch, bekomme weniger Luft, ermüde rascher und verstehe die Schüler häufig schlecht. «Der Musikunterricht lebt vom Austausch, davon, zusammen zu singen, zu musizieren und sich zu bewegen. In dieser Situation ist das jedoch kaum noch möglich.»

Masken erschweren auch die Arbeit von Coiffeuse Deborah Kerner. «Mit einer Kundin einen neuen Haar­schnitt besprechen kann ich nur, wenn ich ihr Gesicht sehe.» Also müsse die Verhüllung kurz weg. Doch die Maskenpflicht habe auch Vorteile. «Manchmal kommen einem Kunden etwas zu nahe», sagt die junge Frau. Einige hätten gar den Anspruch, sie beim Verabschieden zu umarmen. «Die aktuellen Regeln helfen, die Distanz besser zu wahren.» So dient die Maske also auch als Schutz, nicht nur gegen Viren.