Schwerpunkt 23. Februar 2021, von Cornelia Krause, Nicola Mohler

«Unter der Maske bleiben wir einander fremd»

Die Maske

Angesichts der Corona-Krise gerät das soziale Miteinander unter Druck. Der Soziologe Tilman Allert sagt, was das mit der Gesellschaft macht und welche Rolle die Religion spielt.

Die Hygienemaske ist zum Alltagsaccessoire geworden. Erinnern Sie sich noch daran, als Sie sich das erste Mal eine aufgesetzt haben?

Tilman Allert: Ja, der Anfang war amü­sant. Meine Frau holte ihre Nähmaschine heraus und fertigte für die Familie Hygienemasken an. Diese setzten wir auf, dann filmten wir gegenseitig, wie sich die Masken beim Atmen aufblähen, das wirkte ziemlich komisch. Und Freunde schickten Fotos von sich und ihren Masken herum. Dergleichen geschieht aufgrund des anderen Aspekts der Maske, der Verkleidung.

Nur haben wir keine Fasnacht.

Auch in diesem Jahr nicht. Die Deutung, dass wir es mit einer grossen Gefahr zu tun haben, hat uns überzeugt, und wir halten uns an die Regeln. Wir sind sehr fügsam.

Ist die Leichtigkeit mittlerweile verloren gegangen?

Eher nicht. Natürlich machen wir keine Clownerien im Supermarkt, aber wir und auch unser Freundeskreis lässt sich immer wieder mal merkwürdige Dinge einfallen. Das entlastet seelisch. Das Maskentragen ist eine Zumutung für alle Menschen. Diese Belastung irgendwie zu kompensieren, scheint mir wichtig, und Humor ist dafür nicht das schlechteste Mittel.

Warum ist die Maske eigentlich eine Zumutung und bewegt die Gemüter so sehr?

Die Antwort ist einfach: Sie ist eine Antlitz-Verkleidung. Das offene Gesicht ist ein Einstieg in die Kommunikation, ein erster Gruss, noch bevor wir mit dem Sprechen beginnen. Die Maske ist eine Verkleidung, mit der ich ein Misstrauen inszeniere. Und die Maske ist eine Provokation, ich signalisiere: Achtung, ich zeige dir nicht vollständig, wer ich bin. Unter der Maske bleiben wir einander fremd.

Eine düstere Einschätzung.

Nicht ganz. Auch ohne Maske gilt, was vor mehr als 100 Jahren der Soziologe Georg Simmel so treffend formuliert hat: Der Mensch ist dem anderen ein Geheimnis. Stets haben wir es mit einer Geheimnishaftigkeit unseres Gegenübers zu tun. Mit Kommunikation versuchen wir, dem Geheimnis des Gegenübers auf die Spur zu kommen, das macht sie interessant und vor allem dynamisch. Nun die Maske: Sie akzentuiert die Geheimnishaftigkeit, die Fremdheit. Sie verhindert Mimik, und der Frem­de wird zur Provokation, zu einer kommunikativen Zumutung. Das kann zu mitunter tragischen Situationen des Nichtverstehens führen.

Zum Beispiel?

Sehr beeindruckt hat mich die Geschichte einer Krankenschwester aus Bergamo. Sie berichtete, wie sie durch die Schutzkleidung einen Sterbenden nicht mit ihrem Lächeln verabschieden konnte. Eine solche Geschichte lässt einen nicht leicht los. Ohne die Komplexität der Mimik ist der menschliche Blick ambivalent. Er beinhaltet ein Starren und eine Offenheit zugleich.

Könnte der Blick infolge der Maske nicht wichtiger werden?

Obwohl bei der Kommunikation mit Maske die Augen ins Zentrum rücken, können wir mit ihnen die fehlende Mimik nicht ersetzen. Gestik und Mimik unterstreichen das Gesagte – ersetzen es nicht.

In den USA gibt es «Smizing»-Seminare, in denen man lernt, mit den Augen zu sprechen oder zu lächeln.

Ein Seminar zum Lächeln mit den Augen, abstrus! Da wird die Komplexität der Kommunikation heillos instrumentalisiert. Ich glaube nicht, dass dergleichen überzeugt. Aber wenn Menschen für so etwas Geld ausgeben wollen – es gibt ja schliess­lich auch Flirtseminare.

Apropos Flirt: Frisch Verliebte können sich stundenlang in die Augen schauen, ohne ein Wort zu sprechen.

Ja, das stimmt. Der Flirt spielt mit den Augen. Sie vermitteln dem anderen: Aus uns könnte etwas werden. Mit der Sprache jedoch bleibe ich auf einer distanzierteren Ebe­ne. Der Flirt ist eine Kommunikation des andauernden Ja und Nein, das macht ihn auch so spannend – noch spannender, wenn beide dies tun.

Wie beeinflusst die Maske den Flirt?

Der Flirt wird, wie alles andere mit Maske auch, schwieriger. Aber nicht unmöglich.

Die Maske wird zum Symbol für die Möglichkeit, dass das Gegenüber eine Virenschleuder sein könnte.
Tilman Allert, Soziologe

Verändert die Maske unser gesellschaftliches Miteinander?

Das hat sich schon verändert. Zwar sind wir nicht an sich misstrauischer geworden, aber wir vergegenwärtigen ein durch Corona bedingtes Misstrauen. So bei Situationen beim Einkaufen: Nebenan wühlt jemand in der Gefriertruhe. Da geht man gleich einen Schritt beiseite. Die Maske wird zum Symbol für die Möglichkeit, dass das Gegenüber eine Virenschleuder sein könnte. Sie symbolisiert Gefahr. Die Maske ver­urteilt zur Misanthropie.

Wird dieses Misstrauen bleiben, auch nach der Pandemie?

Nein, das ist situationsbedingt. Ich bin sicher, dass das wieder ver­schwin­­den wird, wenn dieser Horror vorbei ist. Dann wird es in gewohnten Bahnen und hoffentlich in alter Zuversicht weitergehen. Gott sei Dank!

Warum sind Sie sich da so sicher?

Weil keine Gesellschaft dauerhaft mit Misstrauen in der Kommunikation funktionieren kann. Eine diktierte Zurückhaltung ist nur für einen absehbaren Zeitraum auszuhalten. Die normale menschliche Kommunikation gründet auf Vertrauen, nicht auf Misstrauen. Wir werden alle froh sein, wenn wir die Maske abnehmen, unser Gesicht zei­gen und wieder gelöst miteinander umgehen können. Auch die Grussformen werden wieder die Qualität bekommen, die sie in modernen Gesellschaften haben.

Also wieder Händedruck statt Ellbogencheck und Füsseschütteln?

Schauen Sie sich die Verlegenheiten dieser merkwürdigen Arm- und Ell­bogenchecks an: Da stossen sich die Politiker an, mit einem Grinsen, das anschaulich macht, dass dergleichen unüblich ist. Die Verlegenheit zeigt, dass man diese Regel für unangemessen hält. Es spricht viel dafür, dass diese Grussformen wieder verschwinden werden.

Andere, zum Beispiel der Knicks bei älteren Personen, sind aber auch verschwunden.

Dass sich Grussformen wandeln kön­nen, ist richtig. Vor 50 Jahren musste unsereiner sich noch vor älteren Menschen verbeugen.

Auch die verbalen Begrüssungen wan­deln sich, werden säkularer.

Ja, das stimmt. Während früher «grüss Gott» normal war, hört man heute fast nur noch ein «Hallo» auf der Strasse. Soziologisch ist das hoch­interessant: Zwei Menschen treffen sich und rufen eine dritte Instanz auf (Gott) in der Hoffnung, dass dieser die Begegnung beschützt. Jede Kommunikation hat das Poten­zial, in einem Streit zu enden. Im Prinzip gestehen sich Menschen mit dieser Grussformel ein, nicht nur unter sich zu sein.

Nicht nur Grussformen sind kulturell geprägt. In Asien etwa ist das Maskentragen viel akzeptierter.

Für Soziologen haben wir es da mit kulturellen Traditionen zu tun, die Jahrhunderte zurückgehen. Die asi­atische Kultur hat eine Tradition der Beschämungsvermeidung durch die Rücksicht auf das Gegenüber. In diesen Kulturen ist es selbstverständ­lich, dass man nicht alles von sich preisgibt. Aus diesem Grund wird die Maske dort auch leichter akzeptiert. In unserer Kultur geht man jedoch wesentlich offenherziger miteinander um und reagiert von daher denn auch irritierter.

Wie lange halten wir das Maskentragen noch durch?

Ich würde mir wünschen, so lange wie nötig. Es bleibt zu hoffen, dass die vielen Auflagen aller Art, die­se sogenannten Regelzumutungen, nicht dazu führen, dass sich die Menschen irgendwann weniger daran halten. Regeln wie die Maske sind ja Entlastung und Zumutung zugleich. Eine Entlastung, weil sie vor Viren schützen und immerhin noch Begegnungen ermöglichen. An­dererseits bringen sie Menschen in eine Zwangssituation. Und wir Menschen versuchen stets, uns solchen Situationen zu entziehen. Das ist eine soziologische Binsenweisheit. Ein Stück weit hat das in diesem Fall aber auch mit der Natur der Pandemie zu tun.

Inwiefern?

Die Hygieneregeln werden von den Menschen auch deshalb als Zwang empfunden, weil ihre Effekte nicht unmittelbar sichtbar sind. Irgendwo sterben vielleicht weniger Menschen, wenn ich die Maske aufsetze, aber ich sehe das ja nicht. Das führt schnell dazu, dass Menschen nachlässig werden und sich fragen, ob eine solche Strenge nicht etwas übertrieben sei.

Nach aller Erfahrung sind ungefähr zehn Prozent der Menschen in einem Land notorisch unzufrieden mit dem, was der Staat und die Politik entscheiden.
Tilman Allert, Soziologe

Erklärt sich so die Rebellion der Maskenverweigerer?

All die Massnahmen dauern jetzt schon ein Jahr an. Das ist für viele Menschen unerträglich. Deshalb se­hen wir eine mangelnde Bereitschaft, sich der Situation anzupassen. Diese Nonkonformitätsbereitschaft vermischt sich mit politischer Opposition von Leuten, die grundsätzlich mit der Politik unzufrieden sind. Nach aller Erfahrung sind ungefähr zehn Prozent der Menschen in einem Land notorisch unzufrieden mit dem, was der Staat und die Politik entscheiden. Noch einmal zehn Prozent zögern in ihrer Zustimmung.

Betriebsschliessungen, wachsende Arbeitslosigkeit, Einschränkungen im privaten Leben. Sie fürchten keinen Aufstand?

Aus der Maske selbst entsteht wahrscheinlich kein Potenzial für eine Rebellion. Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Nonkonformitätbereitschaft in politische Opposition über­setzen. Allerdings: Wenn das nicht gelingt, dann wird es brisant. Dann hätten wir eine Situation wie vor der Wende in der DDR, als plötzlich die ganze Nation sagte, jetzt haben wir die Nase voll. In Ostdeutschland haben wir es übrigens auch jetzt mit einer besonders tragischen Situation zu tun.

Wieso?

Zu Beginn der Pandemie gab es dort so gut wie keine Infektionen. Warum? Obwohl die DDR seit 30 Jahren Geschichte ist, wirkt das System noch nach. Die Menschen haben sich über Jahrzehnte in einer Misstrauenskultur bewegt. Als die DDR noch existierte, konnte jeder ein potenzieller Mitarbeiter der Stasi sein. Die Menschen sind Distanz mehr gewohnt, so kam es zuerst auch kaum zu Ansteckungen. Später wurden dann auch in diesen Landstrichen die Ab­stands­regeln eingeführt. Und dabei drängten die traumatischen Erfahrungen vie­ler einstiger DDR-­Bürger wieder nach vorn. Sie hatten den Eindruck, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde, wähnten sich in einer Zwangssituation, und der unsägliche Begriff der «Corona-Dik­­­tatur» machte sofort die Runde. In einer atemberaubenden Naivität demonstrierten Zehntausende Menschen ohne Masken in den Strassen. So wurde Sachsen zu einem Hot­spot.

In vielen Ländern Europas stehen Politiker wegen ihres Umgangs mit der Pandemie in der Kritik. Kön­nen Sie das nachvollziehen?

Nein. Corona ist eine Heimsuchung der modernen Gesellschaft, auf die niemand, aber auch gar niemand vor­bereitet war. Wer will in den Schuhen der Politiker und Politikerinnen stecken, die jetzt Entscheidungen treffen? Man sollte grössten Respekt haben vor ihnen und ih­ren Bemühungen, diesem hoch­ge­fährlichen Durchwursteln.

Wie müssen Politiker agieren, damit neue Regeln von der Bevölkerung akzeptiert werden?

Die Kommunikation ist bei der Verbreitung von Regeln sehr wichtig. Denn Menschen finden Regeln nur dann zumutbar, wenn sie diese für vernünftig halten. Sonst sinkt die Bereitschaft, diese Regeln zu befolgen. Das sind quasi Grundeinsichten der Soziologie.

Es wirkt beinahe so, als wäre die Corona-Pandemie für Sie wie ein gross angelegtes sozialwissenschaftliches Experiment.

Gewissermassen ist das so. Das Verhältnis von Menschen zu Regeln, von Konformität und Nonkonformität behandeln wir normalerweise im Seminar. Aufgrund der Pandemie beschäftigt sich nun aber die weltweite Bevölkerung mit diesen Fragen, sozusagen in einem länderübergreifenden Proseminar der Soziologie. Natürlich habe ich mir das in der Form nicht gewünscht, aber es ist schon sehr spannend und für eine Wissenschaft natürlich eine He­rausforderung, ihre Leistungsfähig­keit unter Beweis zu stellen.

Momentan stehen Virologen im Zentrum des öffentlichen Interesses. Findet die Soziologie ausreichend Gehör bei der Politik?

Nein, sie wird zu wenig gehört. Die Virologen sagen immer wieder, dass sie sich gewisse Hotspots nicht erklären können. Wir Soziologen wis­sen längst, dass es – insbesondere in Ostdeutschland – unter Migranten, Freikirchen und Jugendlichen zu Ansteckungen kommt.

Das ist jetzt sehr pauschalisierend.

Diese Gruppierungen gehen verhältnismässig lässig mit der Maskenpflicht um. Eine solche Diagnose darf nicht als Vorwurf gelesen werden. Migranten sind tendenziell einkommensschwächer und leben oftmals in grösseren Familien, es ist schwieriger für sie, Abstand zu halten. Viele Anhänger von Freikirchen glauben, Gott schütze sie, und sie würden ohnehin von Corona verschont. Und die Jugendlichen sehen die Solidarität gegenüber den Älteren und Kranken nicht immer ein. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse nach Zusammenkünften in ihrer Peergroup. Meine Disziplin lenkt den Blick auf Kontaktstrukturen, in denen sich das Leben der Menschen abspielt, und die diktieren ein Handeln oftmals gegen beste Absichten. Bei dem Urteil über Hotspots geht es somit nicht um Motive, sondern um Konstellationen des Zusammenlebens.

Donald Trump wetterte gegen die Maske, Republikaner galten tendenziell als Maskengegner, Demokraten als Befürworter. Wieso wird mit der Maske politisiert?

Die amerikanische Gesellschaft hat, historisch betrachtet, ihre Identität stets unter widrigsten Bedingungen behauptet. Es herrscht bei manchen noch immer eine Art Siedlermentalität: «Wir haben ein Land besiedelt und die Natur bezähmt. Das schaffen wir auch mit dem Coronavirus.» Wer so denkt, ist überzeugt, alles zu schaffen, auch ohne Maske gegen das Coronavirus anzukommen. In einer solchen Gesellschaft geschieht es schnell, eine Regelzumutung wie die Maske als Schwäche auszulegen.

In Europa argumentieren vor allem Politiker und Parteien am rechten Rand gegen die Maske. Warum?

Gruppierungen im rechten Spektrum zeichnen sich durch eine Distanz zu den Eliten aus. Sie vereinfachen gedanklich die Komplexität politischer Pro­­zesse. Wie Gesetze und Regeln ent­stehen, ist ihnen fremd – auch mit Blick auf die parlamentarisch legitimierte Maskenpflicht. Kurz: Sie sind nicht verfahrenskundig. Da­her verwundert es nicht, dass sol­che Gruppierungen oder in Deutsch­land leider auch eine Partei die Maskentragpflicht als weiteren Anlass für ihre Elitenkritik willkommen heissen.

Gruppierungen im rechten Spektrum zeichnen sich durch eine Distanz zu den Eliten aus. Sie vereinfachen gedanklich die Komplexität politischer Pro­­zesse.
Tilman Allert, Soziologe

In der Schweiz stimmen wir in wenigen Tagen über ein Verhüllungsverbot ab. Macht uns das Tragen der Maske der Verhüllung gegenüber toleranter oder intoleranter?

Das ist schwierig zu beurteilen. Aber wir leben in einer modernen Gesellschaft, in der Menschen einan­­der normalerweise das offene Antlitz zeigen. Bei der Hygienemaske handelt es sich um eine vorübergehende Massnahme. Deshalb glaube ich nicht, dass sich das Verhältnis zur Burka beispielsweise durch die Pandemie verändert hat.

Wir haben viel über die nonverbale Kommunikation gesprochen. Masken führen aber auch dazu, dass mancher Satz wiederholt werden muss. Macht uns das ungeduldiger?

Ein befreundeter Lehrer schilderte mir die Situation im deutschen Klas­senzimmer, wo Schüler und Leh­rer Masken tragen. Er glaubt, er mache etwas falsch, die Schüler hörten nicht mehr zu, seien unfreundlicher. Ich musste ihn beruhigen. Das liege nicht an ihm, sondern an der Maske, sagte ich. Sie belastet die Kommunikation. Man ist leicht geneigt, auftretende Probleme sich selbst zu­zu­rechnen. Die Maske wirkt sich auf unsere Seele aus, wir glauben, die anderen trauen uns nicht.

Apropos Kinder. Selbst in der Kita tragen Erzieherinnen Maske. Schadet das dem Spracherwerb?

Nein, die Kommunikationspraxis des Menschen ist robust. Die Kinder können die Situation ohne Not bewältigen und werden vermutlich keinen Schaden davontragen.

Wegen des Lockdowns verbringen wir mehr Zeit zu Hause. Inwiefern verändert uns das?

Wir lernen uns und die Mitmenschen zu Hause besser kennen. Das Aussergewöhnliche dabei ist, dass dies durch erzwungenes Nichtstun geschieht. Wenn der gottverdam­m­ten Pandemie irgendetwas Heilsames abzugewinnen wäre, dann die Tatsache, dass wir in eine uns unvertraute Musse gestossen werden.

Mit welchen Folgen?

Partner erleben sich beim Nichtstun – was unglaublich bereichernd ist. Das ähnelt einem Museumsbesuch, bei dem ich mir die Bilder anschaue, um mehr über mich selber zu erfahren. Natürlich ist das ungewohnt und teilweise sehr anstrengend. Aber eigentlich ist es sensationell, denn sonst sind wir doch immer beschäftigt. Jetzt haben wir plötzlich Zeit, aus dem Fenster zu schauen und uns zu fragen, ist das ein Buchfink oder ein Stieglitz, der eben vorbeigeflogen ist? Oder mehr noch: Was tue ich da gerade? Das ist tatsächlich schon philosophisch!

Es hat fast meditative Züge.

Ja, wir halten ein. Und weil wir in einer säkularen Gesellschaft leben, geschieht Innehalten nicht zwangs­läufig über den Weg des Gebets. Ich setze mich beispielsweise an den Flügel und spiele Stücke von Beethoven und Scarlatti, andere jedoch spie­len Scrabble.

Welche Rolle spielt die Religion in dieser Zeit?

Ich glaube, sie spielt eine sehr wichtige Rolle – egal ob wir zur Kirche gehen oder nicht. Die christliche Tra­dition hat ein Gespür für den Umgang mit Schwäche und Hilflosigkeit vermittelt. Und Corona ist pure Hilflosigkeit.

Das heisst?

Corona bedeutet, es ist etwas über uns gekommen, bei dem alle Praktiken versagen. Selbst mit 300 000 Franken auf dem Sparkonto könnte ich mich der Situation nicht entziehen. Auch eine Reise in ferne Länder hilft nicht weiter. Wir sind plötzlich alle mit der Schwäche der menschlichen Existenz konfrontiert, und dieses Selbstverständnis bestimmt die christliche Ethik – wie auch die anderer Religionen. In Relation dazu gibt es nur eine Instanz, der ich die Kräfte der Bewältigung des Lebens zuschreibe, und das ist die göttliche Instanz, egal ob Jesus Christus oder Allah.

Wenn wir irgendwann wieder zur Normalität zurückkehren: Möchten Sie eine Erfahrung aus der Pandemie bewahren?

Offen gestanden, kaum. Vielleicht lässt sich eine Einstellung demüti­ger Hingabe an das nicht Verän­der­bare übernehmen. Aber bei genauer Betrachtung wäre das nichts Neues. Demut gehört bekanntlich zur Lebenskunst.

Worauf freuen Sie sich, wenn die Maske verschwunden ist?

Auf alles, was vorher war: Geselligkeit aller Art, die Lässigkeit, mit der wir kommunizieren. Auf all das, was zur zivilisatorischen Moral einer modernen Gesellschaft zählt. Darauf freue ich mich riesig, und ich bin zuversichtlich, dass all das auch wieder möglich wird. 

Tilman Allert, 73

Tilman Allert, 73

Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und lehrt als Gastdozent in Tiflis, Eriwan und Berlin. Der Soziologe schreibt Artikel für die NZZ, die FAZ und «Die Welt». Er ist Autor mehrerer Bücher. Im Herbst erscheint im Verlag zu Klampen sein Buch «Zum Greifen nah. Von den Anfängen des Denkens».