Schwerpunkt 23. Oktober 2019, von Felix Reich

Im Gefängnis zum Pfarrer berufen

Geschichte

Rolf-Joachim Erler kam 1973 als politischer Häftling ins Stasi-Gefängnis. Auf einem Spaziergang durch Berlin erzählt er, wie er zur Devisenquelle wurde.

Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, sass Rolf-Joachim Erler im Pfarrhaus des Quartiers Seebach am Stadtrand von Zürich vor dem Fernseher. Der gebürtige Ostdeutsche staunte über die Dynamik der Geschichte. Er sah zu, wie tausende Menschen über die Mauer kletterten und in Westberlin euphorisch begrüsst wurden, wie sie an den ge­öffneten Schlagbäumen vorbeirann­ten. Kein Schuss fiel. Bisher hatte sein Leben riskiert, wer die Mauer überwinden wollte, welche die DDR seit 1961 von der Bundesrepublik Deutschland trennte.

«Es war unfassbar», sagt Erler 30 Jahre nach dem Mauerfall. Er sitzt an einem Spätsommerabend in einer Kneipe in seinem Berliner Exil. Es ist ein schönes Exil. Altbauwohnung in Schöneberg, den Park in der Nähe, viel Jugendstilarchitektur, auf die Erler immer wieder hinweist, während er auf vielen Umwegen aus seinem Leben berichtet. In Sackgassen gerät der Erzähler nie. Es ist ein reflektierter und uneitler Blick, den Erler auf sein eigenes Leben und die Zeitgeschichte richtet.

Zu Hause in der Schweiz

Nach Berlin zog der Pfarrer nach der Pensionierung 2014. Die Vor­stel­lung, am Pfarrhaus vorbeigehen zu müssen und dort nicht mehr hinzugehören, war ihm ein Graus. Er, der immer nur von «meinen Seebachern» spricht, brauchte nach 27 Jahren im Pfarramt Abstand, eine neue Aufgabe und eine neue Stadt.

Als Seelsorger betreut Erler ehemalige Stasi-Häftlinge, als Zeitzeuge hält er Vorträge und engagiert sich für die Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn. Belustigt und in einem Anflug von Koket­terie erzählt er vom Aufwand, der bei den Dreharbeiten für eine Fern­seh­do­kumentation mit ihm in der Haupt­rolle betrieben wurde. «Sie filmten sogar mit einer Drohne.»

Dennoch hält es Erler in der deutschen Hauptstadt eigentlich nur aus, weil er immer seinen Schweizer Pass auf sich trägt. Dass er einmal in Zürich begraben werden soll, hat er im Testament festgehalten. Die Schweizer Staatsbürgerschaft verleiht Erler die nötige Distanz für sein Berliner Abenteuer, das ihn zurückführt in die Vergangenheit. «In der Seel­sorge brauche ich einen Tisch zwischen mir und meinem Gegenüber, da­mit ich die nötige Distanz wahren kann.» Der rote Pass mit dem weissen Kreuz ist für den Pfarrer jetzt ein solcher Tisch.

Flucht aus Verzweiflung

Marienborn steht für einen tiefen Einschnitt in Erlers Biografie. Der einstige innerdeutsche Grenzübergang liegt an der Autobahn von Ber­lin nach Hannover. Zur Zeit der Teilung kontrollierten bis zu 1200 Beamte die Lücke im Eisernen Vorhang. Hier endete im Oktober 1973 Erlers Fluchtversuch aus der DDR. Er habe aus purer Verzweiflung gehandelt, sagt er und nimmt einen Schluck von seinem Bier, das er mit Eiswürfeln bestellt hat. Weil er in den Wehrdienst eingezogen werden sollte, wollte er nur noch weg.

Ohnehin fehlten dem Ostdeutschen jegliche Perspektiven. Er arbeitete – «mathematisch völlig unbegabt» – als Optiker in Dresden. Zur Ausbildung hatte ihn das Regime gezwungen, ein Studium wurde ihm verwehrt. 1949 war er in der Semper-Stadt geboren worden und lebte zuerst bei seiner Mutter. Den Vater, der als amerikanischer Soldat in Westberlin stationiert war, lernte er erst kennen, als er sechs Jahre alt war. Am Ende bedeutete das Treffen die Trennung von der Mutter. Als der Soldat 1955 den Sohn und die einstige Geliebte in Dresden besuchte, verriet er sich mit seinem Englisch. Erlers Mutter wurde mit ihm gesehen und denunziert. Überstürzt verliess sie die DDR und liess das Kind bei ihren Eltern zurück.

Nazis werden Genossen

Die Beziehung zwischen der Deutschen und dem Amerikaner scheiterte, Erlers Vater kehrte in die USA zurück. Weil 1961 die Mauer gebaut wurde, sah Erler seine Mutter nie wieder. Jetzt war er nicht nur das uneheliche Kind eines Systemfeinds, sondern auch einer republikflüchtigen Mutter. Früh stand er unter Beobachtung der Stasi.

Ohne Eltern wuchs Rolf-Joachim Erler in Dresden bei den Grosseltern auf. Vom Grossvater, ein «aufrechter Sozialdemokrat, der mir auf der Strasse jeweils zeigte, welche Par­teibosse sich jetzt einfach das SED-Parteiabzeichen ans Jackett ge­heftet und vom Nazi zum Genossen mutiert hatten», spricht er mit einer Mischung von Enkelstolz und Ehrfurcht. Dank zweier Tanten in der Schweiz hatte er früh Verbindung in den Westen. Der Teenager trug die begehrten amerikanischen Jeans, las die «Bravo» und hörte vor allem leidenschaftlich gerne Westradio. Erzählt Erler heute von seinen Lieblingssendungen auf BBC, leuchten seine Augen sogar durch die getönte Brille hindurch. «Mein Markenzeichen», sagt er zum Fotografen und ignoriert die Bitte, sie abzulegen, höflich, aber bestimmt.

Vorerst verlief die Flucht nach Drehbuch. Treffpunkt Weltzeituhr am Alexander­platz, Ostberlin. Von einem Kurier erhielt der 24-Jährige einen zusammengefalteten Zettel in die Hand gedrückt. Am nächsten Tag sollte er an einer Autobahnraststätte auf seinen Fahrer warten. Der sei zuverlässig, sagte der Kurier noch. Der Fluchtplan war denkbar einfach. Ein Transitabkommen zwischen BRD und DDR garantierte Westautos die kontrollfreie Durchfahrt durch den sozialistischen Bruderstaat. Auch die Züge nach Westberlin wurden nicht kontrolliert.

Eine Familie im Kofferraum

«Ein lieber Schulfreund hatte nur ein halbes Jahr vor mir auf dem glei­chen Weg die DDR verlassen.» Erler ist jetzt unterwegs auf einem Spaziergang durch Berlin Mitte. Das Stadtzentrum ist geprägt von geschichtsträchtigen Bauten und vom Verlauf der gefallenen Mauer, der inzwischen an Neubauten und Baustellen ablesbar ist. Erler setzt sich auf eine steinerne Bank im Schatten einer Linde an der Spree, im Rücken den Berliner Dom. Mit Frau und Kind, Schwester, Schwager und Neffe habe sich der Kollege damals in den Kofferraum eines Kleintransporters gezwängt und unbehelligt die Grenze passiert.

Hoffnungsvoll stieg auch Erler am 6. Oktober 1973 in den Wagen eines Fluchthelfers. Kurz vor der Grenze legte er sich in den Kofferraum. Das erste Licht, das er wieder sah, war die grelle Taschenlampe eines Grenzwächters. Die Beamten hatten Verdacht geschöpft und das Auto aus dem Westen in eine dunkle, für Kontrollen errichtete Garage gelotst. Es folgten unzählige Verhöre. Den schweig­samen Fahrer sah Erler nur noch einmal wieder. Das war vor Gericht, als auch sein Anwalt plötzlich ein Parteiabzeichen trug. Erler wurde wegen versuchter Republikflucht zu drei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt.

Fluchtplan auf der Titelseite

Der Fluchtversuch war aufgeflogen, weil das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» der Stasi den Plan kurz zuvor auf dem Silbertablett serviert hatte. Am 20. August 1973 war die Titelgeschichte «Fluchthilfe – Menschenhandel oder Caritas?» erschienen. Der Bericht beschrieb exakt Erlers Route. An der Autobahnraststätte, wo er auf seinen Fahrer wartete, hatte die Stasi Tankwart und Servierpersonal längst durch eigene Informanten ersetzt.

Nur ganz wenige Transitflücht­lin­ge versuchten danach noch ihr Glück. Die DDR verschärfte ihre Grenzkontrollen und rüstete die Beam­ten mit der modernsten Technik aus. Fluchthelfer aus dem Westen wurden zu hohen Strafen verurteilt, was abschreckend wirkte. Das Motiv für die Fluchthilfe war ohnehin nicht die Solidarität mit den DDR-Bürgern. Es ging ums Geschäft. Erler musste einen fünfstelligen Be­trag in D-Mark auf einem Westkonto deponieren. «Die Fluchthilfe funk­tionierte ähnlich wie heute das Schlepperwesen.»

Hungerstreik für eine Bibel

Bereits in der Untersuchungshaft, trat Erler in den Hungerstreik. Für eine Bibel. Nach zehn Tagen bekam er sie. Ein Wächter schob ihm das begehrte Buch kommentarlos durch die Luke in seiner Zellentür. Die biblischen Texte waren dem Gefangenen ein Stück Heimat. Denn Erler hatte in der Herrnhuter Brüdergemeine die Schule besucht.

Die pietistische Gemeinschaft, die im 18. Jahrhundert auf dem Gut des Kirchenlieddichters Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf Zuflucht gefunden hatte, blieb dank ihrer Ge­schichte von staatlicher Repression weitgehend verschont. Nachdem Er­ler in der staatlichen Schule als Systemfeind blossgestellt worden war, erhielt er bei den Herrnhutern die ersehnte Denkfreiheit. Viel Dankbarkeit spricht aus den Schilderungen dieser Zeit, doch sein Blick ist nicht ungetrübt. Gegenüber Hitler seien die Pietisten weniger kritisch gewesen. «In Herrnhut flatterten früh Hakenkreuzfahnen», sagt Erler ungefragt.

Über Mauern springen

Wirklich wichtig wurden die biblischen Texten dem evangelisch sozialisierten DDR-Bürger erst in der Haft. Psalm 18 zum Beispiel: «Mein Gott erhellt meine Finsternis. Mit dir erstürme ich Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern.»  Was in Herrnhut in der Oberlausitz auswendig gelernte fromme Sprüche waren, reifte im Gefängnis zur geistigen Kraftnahrung für den inneren Widerstand. Die einst unter dem Ein­druck der Verfolgung geschriebenen Psalmen waren ihm Medizin gegen die Angst.

Die Bibel war im Gefängnis ein rares Gut. Die Häftlinge mussten An­träge stellen, um sie zu erhalten. Rasch wurde das Buch jeweils wieder eingezogen. Deshalb kursierten kleine Notizzettel mit Bibelversen. Erler hat viele davon aufbewahrt und fein säuberlich archiviert.

Der Pfarrer schweigt jetzt, was auf dem Spaziergang selten vorkommt. Strassenmusik weht vom Schlossplatz herüber. Das barocke Schloss liess die DDR-Führung 1950 sprengen, statt das im Krieg beschädigte Baudenkmal zu restaurieren. 1976 weihte die Partei­spitze den mo­­dernistischen Palast der Republik ein, der nach der Wende gesperrt wurde, weil er asbestverseucht war. Seit sechs Jahren ist das Humboldt-Forum, das neben Veranstaltungsräumen Ausstellungen über ausser­europäische Kulturen beherbergen soll, im Bau. Teile des alten Schlosses werden rekonstruiert. Im nächsten Jahr soll das Haus, das für die wechselvolle deutsche Geschichte steht, eröffnet werden.

Die Bibel als Proviant

«Ich habe meine Konfirmanden immer gut verstanden, wenn ihnen die Bibel fremd blieb», sagt Erler jetzt. «Was sollten junge Menschen auch mit bis zu fast 3000 Jahre alten Texten anfangen?» Er riet ihnen trotzdem, sie zu lesen. Als Notvorrat ohne Ablaufdatum für das Leben.

Oft sassen die Konfirmandinnen und Konfirmanden in der Stube des Pfarrhauses in Seebach nach dem Unterricht noch zusammen und diskutierten weiter. Der Pfarrer zog sich in sein Studierzimmer eine Etage höher zurück und arbeitete. «Hat­ten sie eine Frage, kamen sie von allein.» Sein unaufdringliches Reden über den Glauben und die Freude am Kontakt mit Menschen hat sich der Theologe ebenso bewahrt wie eine wache Neugier und seine Bereitschaft, auch auf unbequeme Fra­gen einzugehen und die eigene Sicht zu hinterfragen.

«Erler, red keinen Scheiss.»

Ohne die Gefangenschaft in den Sta­­si-Zuchthäusern von Gera und Cottbus hätte Erler vielleicht nie Theologie studiert. Bald freundete er sich mit dem ebenfalls inhaftierten Pfarrer Henning Gloege an, der ihm Zettelchen mit Psalmversen zusteckte und ihn, von den Aufsehern unbemerkt, in Alt­griechisch unterrichtete. Auch in das Werk Karl Barths, das Erler seinen theologischen Weg weisen sollte, führte er ihn ein. Als Gloege freikam, wurde sein Schüler und Freund Nachfolger beim «Wort zum Sonntag» in der mit 28 Gefangenen belegten Zelle in Cottbus.

In kurzen Andachten legte Erler ins Gefängnis geschmuggelte Bibelverse aus. «Die Mitgefangenen waren ein brutal ehrliches Predigtpublikum.» Hatte er nur frömmlerisch und ohne innere Überzeugung daher geredet oder sie mit nacherzähl­ten Theologieexkursen gelangweilt, sagten sie nur: «Mensch, Erler, red keinen Scheiss.»

Erler lacht sein lautes Lachen. Die Kritik war ihm eine Lehre. Spä­ter auf der Kanzel predigte er nur, was er selbst glaubte. Manchmal blieb Gott eine Leerstelle. «Wie Barth die Religionskritik von Ludwig Feu­erbach in seine Theologie einbau­te, war genial.» Da habe Feuerbach schon recht: Der Mensch bast­le sich seinen eigenen Gott. Nicht von ungefähr spricht Erler nicht ein­fach von seinem Glauben, sondern zitiert einen Philosophen und einen Theologen. Neben dem unmittelbaren, pietistisch geprägten Zugang zur Bi­bel ist ihm die intellektuelle Auseinan­dersetzung mit den religiösen Texten und Glaubensfragen wich­tig.

Getrost Gott überlassen

«Zweifel gehören zum Glauben.» Mit dem Älterwerden zunehmend der Zweifel an der Auferstehung. Am Sterbebett «eines treuen Freundes» hat er die Frage zuletzt oft diskutiert und kam zur vorläufigen Einsicht: «Vielleicht können wir die Antwort getrost Gott überlassen.»

Nach seiner Freilassung war der Wort-zum-Sonntag-Sprecher dem Ruf seiner Gefängnisgemeinde gefolgt: «Du musst Pfarrer werden!» In Herrmannsburg, Celle und Zürich studierte er Theologie. Nicht nur mit Blick auf die Predigt war die Gefängniszeit trotz erlittener Demütigungen die beste Pfarrausbildung. «In der Seelsorge half mir die Gefäng­niserfahrung, die Menschen besser zu verstehen.» Auch eine Krankheit sei ein Gefängnis oder die Trauer, die Einsamkeit.

Die Antwort auf die Angst

Für den Pfarrer ist das seelsorgerliche Handeln entscheidend, nicht das Bekenntnis. Der barmherzige Samariter (Lk 10,25–37) bete auch nicht, als er den Verletzten am Wegrand finde. Er helfe. «Das Evange­lium kennt viele Möglichkeiten», ruft Erler beim ersten Treffen in den Kneipenlärm hinein. Das Unservater sei manchmal das einzige, was es zu sagen gebe, zuweilen aber deplatziert. Dann wieder sei ein Ge­spräch, in dem Gott gar nicht vorkomme, das wahre Gebet. «Da machen es sich die Oberfrommen zu einfach.» Nur weil von Gott gesprochen werde, sei er noch lange nicht präsent. «Gott ist nicht gebunden und schon gar nicht an ein Wort.»

Glaube bedeutet für Erler, Fragen auszuhalten und Zuversicht zu schöpfen aus «diesen grossartigen biblischen Geschichten». Die biblischen Figuren müssen oft eine grosse Portion Ungewissheit aushalten. Das «Fürchte dich nicht», das die Bibel durchzieht, ist die Antwort auf die Angst, die zum Leben gehört.

Geschenke des Himmels

Die geraubte Freiheit öffnete Erler viele Türen. Er ist überzeugt, dass er zum Ausschwitz-Überlebenden Walter Rosenbaum, den er 1981 in Haifa traf, rasch einen Draht fand, weil sie beide die Leidenserfahrung verband. Bis zu Rosenbaums Tod schrie­ben sie sich regelmässig. Auch die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer (97) ist in Berlin zu einer «lieben Freundin» geworden, ihre Geburtstage feiern Erler und sie immer zusammen.

Und plötzlich wird der Auslandschweizer nochmals so richtig laut. Dass der rote und braune Faschismus vermehrt gleichgesetzt werde, geht ihm auf die Nerven. «Was die Nazis mit den Juden gemacht haben, hat die DDR mit uns ganz sicher nicht gemacht.» Als kürzlich ein ehemaliger Stasi-Häftling an einem Gedenkanlass diese Unterschei­dung relativierte, bekam er mit dem Seelsorger mächtig Krach.

Erler erzählt viel von Menschen, die ihm wichtig sind. Eine Woche nach den Gesprächen in Berlin wird eine E-Mail ankommen: «Als alter Knacker denkt man gern und dankbar an all die Menschen zurück, die einem im Leben etwas bedeutet und weitergeholfen haben.» Angehängt sind solchen Nachrichten meistens Dokumente wie der Zeitungsarti­kel über das Seebacher Gespräch mit «meinem alten Freund» Johannes Rau (1931–2006), der von 1999 bis 2004 deutscher Bundespräsident war, oder wie das Foto, das ihn mit Margot Friedländer zeigt. Daraus spricht nicht die Eitelkeit, berühmte Leute zu kennen. Es ist die tief empfundene Dankbarkeit für Begegnungen und Freundschaften, diese «Geschenke des Himmels».

Ein Staat als Gefängnis

Heute werden neue Mauern gebaut. Nur sollen sie Menschen nicht mehr von der Ausreise abhalten, sondern die Einwanderung verhindern. Den Vergleich lässt Erler nicht gelten: «Wissen zu wollen, wer ins Land kommt, ist legitim.» Die DDR hinge­gen habe die eigenen Bürgerinnen und Bürger gefangen gehalten.

Erler blickt in den Himmel über Berlin und sucht dann doch nach Parallelen zwischen den Republikflüchtigen und den Migranten von heute. Obwohl die Häftlinge in seiner Zelle damals offiziell als politische Gefangene galten, wollten viele aus ökonomischen Gründen weg. «Da waren Ärzte, die sich mit dem Regime arrangiert hatten, aber halt wussten, dass sie im Westen das Zehn­fache verdienen können.»

Wirtschaftsflüchtlinge also. «Genau», sagt Erler schnell. Doch sogleich versetzt ihn das Etikett in Ra­ge. «Will ich als Vater von zwei hungernden Kindern nach Europa, damit ich meine Familie ernähren kann, bin ich dann ein Wirtschaftsflüchtling?» Im Kalten Krieg sei im Westen der politische Wille stark gewesen, Flüchtlinge aus sozialistischen Ländern aufzunehmen. Seit der Systemfeind weg ist, bröckelt die Aufnahmebereitschaft.

In den Westen verkauft

Erler musste nicht die ganze Strafe absitzen. Im Herbst 1975 kam er auf den ersehnten «Transport». So hiess das Codewort für ein unterbeleuchtetes Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte: In der Zeit von 1964 bis zum Mauerfall 1989 bezahlte die BRD für die Freilassung von 33 000 politischen Häftlingen, die in den DDR-Gefängnissen sassen, 3,3 Milliarden D-Mark. Die marode Wirtschaft des sozialistischen Staats war auf die Einkünfte angewiesen.

Auch Erler wurde freigekauft. Er kam in ein Notaufnahmelager in Gießen. Der «Herrnhuter Vertrauensbonus» schützte ihn vor den Verhören der westdeutschen Geheimdienste, die verhindern wollten, dass die DDR Spione einschleuste.

Nun steht der pensionierte Pfarrer am Mauerdenkmal an der Bernauer Strasse. Die Gedenkstätte erinnert an 130 Menschen, die an der Berliner Mauer erschossen wurden oder tödlich verunglückten. Bis 1985 stand die Versöhnungskirche auf dem Todesstreifen. Dann wurde sie gesprengt, damit die Grenzwächter freie Sicht hatten. In Gedan­ken versunken geht Erler von der vor 19 Jahren eingeweihten Kapelle der Versöhnung zu den Informationstafeln, die er aufmerksam studiert. Er ist zum ersten Mal hier.

Ein Schweizer in der DDR

Bereits 1982 berief die Bundesregierung Erler in den Stiftungsrat für ehemalige politische Häftlinge. Er fädelte viele Freikäufe ein, oft diente ihm die Theologie als Türöffner. Er knüpfte Kontakte zu Politikern, von denen er wusste, dass sie sich für Barth und Dietrich Bonhoeffer interessieren. Kurz vor dem Mauerfall empfing die DDR den früheren politischen Häftling «wie einen Staats­gast». Am 6. November enthüllte Erler als «Barth-Kenner aus der Schweiz» in Thüringen eine Gedenktafel. «Nichts deutete darauf hin, dass die DDR bald implodiert.»

Erler hält den 9. Oktober 1989 für wichtiger als das berühmte Datum einen Monat später. Damals de­monstrierten 70 000 Menschen in Leipzig. Niemand wusste, ob das DDR-Regime, das bereits Truppen zu­sammengezogen hatte, die Proteste niederschiessen lässt wie die Kommunisten in China auf dem Tian’anmen-Platz vier Monate zuvor. Nun ist Erler nicht nur überwältigt vom Tempo, in dem sich die Wende vollzog. Spürbar wird seine Hochachtung vor dem Mut der Menschen, die ihre Angst überwunden haben.

Eine Pressekonferenz schreibt Geschichte

Die Flucht vieler Bürgerinnen und Bürger nach Westdeutschland zwang die DDR, ihre Reisegesetze anzupassen. Besonders beliebt war der Umweg über andere Ostblockstaaten. Nach einer Tagung des Zentralkomitees der SED trat Politbüro-Mitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 vor die Presse. Bei sich hatte er eine im Ministerrat behandelte Gesetzesvorlage. Von der Sperrfrist wusste er nichts.

Schabowski sagte: «Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vor­liegen von Voraussetzungen beantragt werden.» Die Änderung trete nach seiner Kenntnis «sofort, unverzüglich» in Kraft. Westliche Fernseh- und Radiostationen berichteten sofort, die Mauer sei offen. Angesichts der Menschenmassen stellten die Grenzwächter gegen Mitternacht die Kontrollen ein. Allein am Grenzübergang Bornholmer Strasse gelang­ten zwischen 23:30 und 0:15 Uhr rund 20 000 Ostberliner in den Westen.

Eine protestantische Revolution

«Dass die Kirchen plötzlich wichtig ge­worden waren, gehört zu den prä­genden Erfahrungen der Wende.» Das schreibt das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» in seiner aktuellen Sonderausgabe zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Früh dienten die Kirchen in der DDR der Opposition als Treff­punkte. Die Montagsdemonstrationen, die ab September 1989 das Regime massiv unter Druck setzten, hatten ihren Ursprung in den Friedensgebeten in der evangelischen Nikolaikirche in Leipzig. Bereits 1982 wurden dort jeweils am Mon­tagabend Friedensgebete abgehalten, später formierten sich daraus De­monstrationen gegen das militärische Wettrüsten in Ost und West.

Als im Herbst 1989 Demonstranten ein Ende der Alleinherrschaft der sozia­listischen Einheitspartei und den friedlichen Übergang zur Demokratie forderten, entschied die Kirchenleitung, alle Kirchen zu öffnen. Ihre Schirm­herrschaft gilt als einer der Gründe, weshalb das Regime auf Gewalt verzichtete, als am 9. Oktober in Leipzig 70 000 Menschen protestierten.

Die Kirchen boten der Opposition früh Zuflucht und gewannen über ihre Mit­glieder hinaus an Bedeutung. Die DDR hoffte vergeblich, den Widerstand kont­rollieren zu können, wenn er sich innerhalb der Kirchenmauern formierte. Einzelne Kirchenfunktionäre verrieten dem Regime Informationen. Laut Re­cher­chen der ARD-Sendung «Kontraste» standen 3000 der rund 50 000 An­gestellten der evangelischen Kirche irgendwann auf der Lohnliste der Stasi.

In den Fängen der Stasi

In seinem lesenswerten Buch schildert Rolf-Joachim Erler kämpferisch und reflektiert seine «Jugendjahre in den Fängen der DDR-Staatssicherheit». Gut dokumentiert erzählt er ein Stück Zeitgeschichte aus per­sön­licher Perspektive.

Die Fernseh­doku­men­­­ta­tion über Erler wird am 18. November um 23:30 Uhr auf ARD gezeigt.

Rolf-Joachim Erler: Freiheit, die ich meine: Flagge zeigen! Jordanverlag, 2018.