Glaube 11. April 2024, von Sandra Hohendahl-Tesch

Flaschengeist des digitalen Zeitalters

Aberglaube

Wer genug fest daran glaubt, kann Millionär werden. Explosionsartig verbreitet sich das Manifestieren im Internet. Ein Theologe und eine Psychoanalytikerin ordnen den Trend ein.

Aladin reibt die Wunderlampe und schon erscheint vor ihm der mächtige Geist, der ihm jeden Wunsch erfüllt. Das Märchen aus 1001 Nacht übt eine ungebrochene Faszination aus. Doch in den Tiefen der sozialen Medien gibt es eine Bewegung, die den Flaschengeist aus dem Reich der Träume befreien will.

Die Rede ist vom Manifestieren, was so viel bedeutet wie «zeigen, handgreiflich machen». Gemäss einem Artikel von «National Geographic» aus dem Jahr 2023 wurde der Hashtag #manifesting auf Plattformen wie TikTok oder Instagram über 34 Milliarden Mal aufgerufen.Life-Coaches und Influencer versprechen im Netz Erfolg und Reichtum. Und zwar ganz einfach zu erreichen. So soll man sich nur feste Wünsche setzen, immer positiv denken und sich selbst klarmachen, dass man das Imaginierte unbedingt verdient hat. Dann wird das Universum alle Wünsche erfüllen.

Die 3-6-9-Methode

Dabei gibt es verschiedene Manifestationstricks. Einer, der besonders häufig genannt wird, geht auf den Physiker Nikola Tesla (1856–1943) zurück. Der Wunsch soll dreimal am Morgen, sechsmal am Mittag und neunmal am Abend aufgeschrieben werden, für mindestens 21 Tage. Besonders wichtig dabei: sich so verhalten, als wäre das Manifestierte bereits Realität.

Humbug, Aberglaube oder eher ein neues, tiefes gesellschaftliches Verlangen nach Spiritualität? «Sicher ist im Trend ein Wunsch nach Transzendenz zu erkennen», sagt der Theologe und Co-Leiter des RefLab der Zürcher Landeskirche Manuel Schmid. Parallelen zum Glauben seien unübersehbar; nur, dass an die Stelle von Gott das Universum tritt. Während es im Gebet heisst «dein Wille geschehe», wird daraus «mein Wille geschehe». 

Die Idee, die Realität durch positives Denken zu beeinflussen, kennt Schmid auch aus pfingstlich-charismatischen Kreisen. «Es gibt Prediger, die reden einem ein, dass sogar Krebs geheilt werden kann, wenn man sich nur genug einredet, gesund zu sein.» Dabei wäre es – bei unbestrittener Kraft des positiven Gedankens – genauso wichtig, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Den «naiven» Internethype hält Schmid für eine «oberflächliche Fixierung auf Erfolg und Wohlstand». Im Zentrum stehe eine komplett materialistische Sichtweise auf das Leben, dazu gehöre auch die Suche nach dem idealen Partner oder der Partnerin.

Eine Recherche auf TikTok bestätigt diese Haltung. Da begegnet einem etwa die amerikanische Influencerin Liz The Wizard mit fast sechs Millionen Followern: «Du bist reich, du kannst dir alles erfüllen, was du haben willst, sei es ein Ferrari oder eine Million auf deinem Konto», sagt sie selbstbewusst und perfekt geschminkt in die Kamera.  Bemerkenswert daran sei insbesondere, dass bisher kaum ein Coach die Frage stelle, wie ein erfülltes Leben gelingt, das nicht nur persönlichen Erfolg, sondern auch einen positiven Beitrag für den Planeten und die Menschheit leistet, kommentiert Schmid das Video.

Neu ist der Trend, der sich im Internet explosionsartig ausgebreitet hat, nicht. Eine Art Manifestationsfibel ist das bereits 2006 erschienene Buch «The Secret» von Rhonda Byrne. Es wurde zum Weltbestseller, übersetzt in 50 Sprachen, mit einer Druckauflage von über 25 Millionen Exemplaren. Die Autorin soll hoch verschuldet gewesen sein, bevor sie dank der Methode zur Millionärin aufstieg. 

Menschen sind Wartetiere

«Wünsche spielen eine unverzichtbare Rolle in unserem psychischen Leben», bestätigt Brigitte Boothe. Sie war bis 2013 Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich, wo sie unter anderem die Psychologie des Wünschens untersucht und dazu publiziert hat.

Die Menschen seien so etwas wie «Wartetiere», die ganz auf die Erfüllung ihrer Träume ausgerichtet sind. Schöne Vorstellungen vermittelten uns ein gutes Gefühl, seien sinnstiftend. «Manifestationsmenschen versuchen über die Visualisierung ihrer Wünsche, ihr Leben zu gestalten», erklärt Boothe.

Grundsätzlich sei dagegen nichts einzuwenden. Schon in der Bibel heisse es, dass der Glaube Berge versetzen könne. Doch die «transformative Kraft» dieses starken Bildes liege nicht in der Erfüllung dessen, was auf dem Wunschzettel stehe, sondern in der Tiefe des Glaubens. Problematisch werde es indes, wenn das Wünschen in einem «Akt des Selbstbetrugs» Menschen davon abhalte, die Realität in ihrer ganzen Komplexität anzuerkennen.

Davor warnt auch eine Studie, die im erwähnten Artikel von «National Geographic» vorgestellt wird. Sie fand heraus, dass Menschen, die an Manifestation glauben, zu einer falschen Selbstwahrnehmung neigen. Sie halten sich tendenziell für erfolgreicher, als sie es eigentlich – bezogen auf Faktoren wie Einkommen oder Bildungsniveau – sind. 

Evangelium der Starken

Selbsterkenntnis spielt laut Boothe in der psychoanalytischen Praxis eine zentrale Rolle. Diese schaffe ein Bewusstsein für die eigenen Grenzen, worin auch die Fragilität und Vulnerabilität des Menschen deutlich würden.

Auch für Theologe Schmid ist Manifestieren Selbstbetrug. Dazu eine Art «Evangelium für die Starken». Denn was ist mit den Leuten, die den Partner nicht finden, in der Armut landen, krank werden? Haben sie zu wenig an ihren Erfolg geglaubt? «Das tritt alle in die Magengrube, die ohnehin schon am Boden liegen», sagt er. Aus christlicher Perspektive bewerte er den Trend daher durchaus als unbarmherzig. 

Ähnliches lehrt uns auch das Märchen. Aladin erobert das Herz seiner Angebeteten erst, als er seine materialistischen Wünsche verlässt und erkennt, dass wahre Erfüllung nicht im Besitz von Reichtum liegt, sondern in der Liebe und dem Wohl anderer.