Schwerpunkt 23. März 2016, von Katharina Kilchenmann, Felix Reich

«Manchmal kann auch ich Paulus nicht retten»

Paulus

Paulusforscher Ekkehard Stegemann beschreibt den Apostel als Apokalyptiker, der mit baldigem Weltuntergang rechnete. Vieles seiner Briefe sei uns daher fremd.

Wer war Paulus?

Ekkehard Stegemann: Er war ein Visionär. Der Apostel beruft sich auf eine Vision, in der sich ihm der im Himmel thronende Gottessohn offenbart hat. Für Paulus ist Christus der lebendige, jetzt im Himmel schon eingesetzte Sohn Gottes, den man nicht in seiner irdischen Gestalt kennen muss. Mit diesem reinen Geist hat er kommuniziert. Manches in seinen Briefen deute ich so, dass er im Gebetsgespräch mit Gott und Christus ist. Seine Beziehung zu ihm ist sehr vital und persönlich. An einer Stelle behauptet er sogar, er hätte eine Himmelsreise gemacht. Man muss also davon ausgehen, dass Paulus immer wieder Visionen hatte.

Würde er heute zum Psychiater geschickt?

Doktor Freud hätte für ihn sicher ­eine Diagnose parat gehabt. Zu jener Zeit war es jedoch üblich, dass man mit der geistigen Welt auf diese Art kommunizierte. Irdisches und Himmlisches wurde nicht durch eine strikte Grenze getrennt. Vielmehr ging man davon aus, dass die Sphären in ausgewählten Menschen zusammenfliessen.

Dieses Phänomen findet sich sowohl in der jüdischen als auch in nicht jüdischer Tradition und galt in der Antike keineswegs als Krankheit. Im Gegenteil, wer diese Fähigkeit hatte, galt als charismatischer Auserwählter. Will man Paulus verstehen, muss man diesen visionären Aspekt mit einbeziehen. Er hatte eine Antenne für das Fremde, das Neue, das nicht so leicht zu verstehen ist.

Das Christentum war ursprünglich also eine charismatische Bewegung?

Ja. Paulus war der Empfänger neuer Informationen, des ihm von Gott selbst übermittelten Evangeliums. Damit hat er viel bewegt. Der Apostel hat die damals jüdisch-messianische Bewegung nach Jesu Tod als charismatische Bewegung insbesondere in der Diaspora und unter den Völkern fortgesetzt. Wie jede charismatisch-messianische Bewegung wirkte auch diese wie ein anarchischer Luftzug in die traditionelle Gesellschaft hinein. Insofern war Paulus nicht nur ein Visionär, er war auch ein Revolutionär.

Und trotzdem wird Paulus oft als der Kopfmensch dargestellt, der die jesuanische Revolution in religiösen Dogmen einfror.

Stimmt. Jesus und Paulus werden gerne gegeneinander ausgespielt. Jesus steht dann auch für das Revolutionäre, Politische und vor allem für Diakonie und Nächstenliebe. Paulus wird als derjenige dargestellt, der das alles verdorben hat. Er gilt als Pharisäer, der die Bewegung wieder zu einer starren Religion machte. Historisch sind diese konstruierten Gegensätze nicht haltbar. Sie werden benutzt, um eigene alternative Vorstellungen der christlichen Religion oder der Kirche in der Bibel wieder zu finden.

Paulus der Moralist und Jesus der Wohltäter: Ist diese gern gemachte Zuspitzung demnach nur ein Missverständnis?

Häufig schon. Aber Paulus als distanzierten, zuweilen moralisierenden Intellektuellen darzustellen, liegt halt auf der Hand, weil wir von ihm in der Bibel abgesehen von der Apostelgeschichte nur Briefe haben. Erzählungen gibt es höchstens in Ansätzen.

In den Briefen an die frühchristlichen Gemeinden argumentiert Paulus. Er bedient sich damals üblicher rhetorischer Muster. Von Jesus hingegen stehen in den Evangelien einzig Geschichten. Wir kennen all die schönen, eingängigen Geschichten und Gleichnisse, die viel Interpretationsspielraum offenlassen und uns berühren.

Jesus profitiert davon, dass von ihm erzählt wird, statt dass er selbst schreibt?

Das kann man so sagen. Mit Geschichten lässt sich leichter darstellen, was wir als das wahre Leben empfinden. Dagegen lösen strenge Argumentationstexte schnel­ler Widerspruch aus.

Wobei ich finde, dass das auch eine Verweigerung des Intellekts ist, wenn man sie einfach beiseiteschiebt oder schlechtmacht. Man geht davon aus, dass der Intellekt die Religion nicht fördern kann, sondern sie nur Gefühl ist. Das finde ich seltsam.

Paulus befasst sich kaum mit dem Leben Jesu, sondern deutet dessen Tod und Auferstehung, obwohl er Zeitzeugen kannte. Warum?

Tod und Auferstehung waren für ihn die Initialzündung für die neue Schöpfung, die Erlösung und die Aufrichtung des Gottesreichs. Das Ostergeschehen steht somit für das Ende der alten Ge­schichte. Der Tod am Kreuz, der Märtyrertod, ist ein gewaltsamer, ungerechter Tod.

In der Antike herrschte die Vorstellung, dass der ungerechte Tod Unheil abwendet. So schafft ein Märtyrer einen Art Vorrat an Ge­rechtig­keit. Und wenn Gottes Sohn am Kreuz den ungerechten Tod stirbt, schafft er einen unendlichen Über­schuss an Gerechtigkeit, der den Menschen zugute kommt.

Allen Menschen?

Ja. Aber zunächst gilt das nur den Anhängern, die Christus Treue und Gefolg­schaft geloben. Wer glaubt, kann teilhaben an seiner Herrschaft. Im Römerbrief sieht Paulus aber eine besondere Erlösungsgeschichte voraus: Indem alle Völker bekehrt werden, wird am Ende ganz Israel gerettet. Entscheidend dabei ist: Paulus ist nur als ein Apokalyptiker zu verstehen. Durch den auferweckten und in den Himmel aufgefahrenen Christus findet die Aufrichtung des Gottesreichs statt.

Nun kommt es darauf an, an der Vergebung der Sünden teilzuhaben. Ob Paulus so etwas wie eine Allversöhnung meinte oder ob ausser den Christusgläubigen niemand gerettet wird, ist umstritten. Wer jedenfalls ohne Rettung bleibt, fällt ins ewige Verderben, wenn im Gericht die Welt kurz und klein geschlagen wird.

Erstaunlich bleibt, dass «ganz Israel gerettet wird». Wenn «Glaube» nicht einfach ein Fürwahrhalten, sondern ein Treueverhältnis meint, kann sich dieses ja auch herstellen, wenn der Erlöser am Weltende vom Himmel her erscheint.

Ist er davon ausgegangen, dass er den Weltuntergang noch selbst erlebt?

Das kann durchaus sein. Paulus war überzeugt, dass das Alte im Vergehen ist und in ihm das Neue schon begonnen hat. Er stand in der Tradition des Geschichtsverständnisses der Römer. Deren Universalgeschichte besagte, dass das Römische Reich nach allen Reichen das letzte sei. Paulus bezog sich darauf. Nur war für ihn Rom die vorletzte Sta­tion. Die letzte war Gottes Himmelreich.

Ein Charismatiker, der sich in einer Endzeit wähnt und das Körperliche oft als sündig ablehnt: Kein Wunder, gibt es viele Leute, die ein Problem haben mit Paulus.

Dass Paulus an vielen Stellen den Körper und die Begierde so stark zurückweist, muss man im Lichte dieser Endzeitthematik sehen. Der Körper steht für die Welt, die bald überwunden sein wird. Wer sich ganz dem Geist verschreibt, der wird herausgezogen aus dieser Welt.

Ich finde es sehr wichtig, dass wir erkennen, dass uns in den Paulusbriefen zuweilen eine Welt entgegentritt, die uns fremd geworden ist. Ohne dieses Bewusstsein können wir die Texte nicht verstehen.

Warum lohnt sich die Lektüre trotzdem?

Es gehört einfach dazu, dass ich mich als Christ diesen Schriften einmal stelle. Doch wir wenden ja die verschiedenen biblischen Traditionen nie gleichzeitig an. Da gäbe es einige sehr widersprüchliche Anweisungen. Oft sprechen Texte in bestimmten Lebenssituationen zu uns. Zu anderen Zeiten sind sie uns fremd.

Wir können uns also an die wunderbaren Paulus-Sätze wie «Glaube, Liebe, Hoffnung» halten und andere getrost überlesen?

Ja. Aber fragen Sie mich vorher.

Und dann können Sie Paulus retten?

Oft führen Projektionen dazu, dass wir Texte ablehnen. Wenn man die Stellen im Kontext liest und die Perspektive berücksichtigt, aus der Paulus schrieb, kann man vieles relativieren.

Ich habe oft erlebt, dass die Interpretation auf eine mögliche Auslegung zugespitzt wird. So gab es eine starke Antisemitisierung des Paulus. Dem widersprach ich in einem Aufsatz und schrieb: Ich habe Paulus aus dem Antisemitismus gerettet.

Funktioniert die Rettung immer?

Nein. Manchmal nicht. Unrettbar sind seine polemischen Ausfälle – zum Beispiel gegen die Beschneidung oder das «Die Frau schweige in der Gemeinde». Ich würde mich da an Paulus selbst halten: «Prüft aber alles, das Gute behaltet!»

Ekkehard Stegemann, 70

Der deutsche evange­li­sche Theologe war von 1985 bis 2014 or­dent­licher Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Univer­sität Basel. Er wohnt in Oberwil (BL). Mit zahlreichen Publikationen beeinflusste Stegemann nachhaltig die Pau­lusinterpretation. Seine intensive Beschäftigung mit Leben, Werk und Theologie des Apostels Paulus hat zu bedeutenden Ände­rungen im Paulusbild geführt.

Judentum. Stegemann betont die auf die Heilserwartung aus­gerichtete Deutung des Christusereignisses. Kri­tisch kommentiert der Theologe die jahrhundertealte an­ti­jüdische Auslegung pau­linischer Texte. Paulus selbst habe, hält Stegemann fest, gegen den entstehenden christ­lichen Anti­ju­daismus gekämpft. Ekkehard Stegemann setzt sich in der Öffentlichkeit für den Staat Israel und den Zionismus ein.