Schwerpunkt 23. März 2016, von Hans Herrmann

Vom Wegbereiter des Christentums

Paulus

In fast jedem Hochzeitsgottesdienst sind Sätze von ihm zu hören, zugleich wird er von vielen als Moralist abgelehnt: Paulus polarisiert. Wir zeigen, warum.

Hat Paulus das Christentum erfunden?

Paulus wird zuweilen als «Erfinder des Christentums» bezeichnet. Aber halt: War das nicht Jesus von Nazareth mit seiner Frohbotschaft des Reichs Gottes? Das kann man so, aber auch anders sehen. Jesus wurzelte mit seinem Leben und seiner Verkündigung tief in der jüdischen Tradition. Seine Bewegung war ein neuer Weg innerhalb des damaligen Judentums. Nach seinem Tod am Kreuz und seiner Auferstehung waren es jüdische Jünger um Petrus und Jakobus, die diese «Sekte» leiteten.

Paulus jedoch, ebenfalls Jude, war überzeugt, dass Gott seinen Sohn Jesus am Kreuz nicht nur für die Juden geopfert hatte, sondern für alle Menschen. Allein der Glaube an dieses Heilsgeschehen führe zu Gott, nicht die Erfüllung des jüdischen Gesetzes. Paulus begann, diese Erkenntnis in den griechisch geprägten Städten des Nahen Ostens zu predigen. Er erreichte urbane, weltoffene Juden ebenso wie Menschen nicht-jüdischer Herkunft. Auf diese Weise löste er die Je­susbewegung aus ihrem jüdischen Um­feld heraus und legte den Grundstein zu einer neuen Weltreligion.

An einem Treffen mit den Leitern der judenchristlichen Jerusalemer Gemeinde, das als Apostelkonzil in die Religionsgeschichte eingegangen ist, erhielt Paulus offiziell die Erlaubnis, das begonnene Werk fortzusetzen und seine Lehre von Jesus Christus auch unter den «Heiden» zu verbreiten.

Verbarg sich hinter dem Poet ein Dickschädel?

Wer so poetische Worte für die Liebe findet, wie sie im 13. Kapitel des 2. Korintherbriefs zu lesen sind, muss ein feinfühliger Mensch sein. Das war Paulus als Verfasser dieser berühmten Verse tatsächlich.

Oft tritt einem aus seinen Briefen aber gleichzeitig ein anderer Mensch entgegen. Einer, der mit Autorität unterweist und ermahnt. Der seine Lehre vom gnädigen Gott, der für alle Völker dieser Welt da sein will, mit Nachdruck verteidigt. Der sich nicht scheut, Missstände in einer Gemeinde mit deutlichen Worten zu brandmarken. Dem es egal ist, wenn er sich unbeliebt macht. Ein dickhäutiger Leadertyp eben, der weiss, wo es langgeht.

Nicht nur dickhäutig war er. Sondern auch dickschädlig. Was er auf sich nahm, um seine frohe Botschaft unter die Leute zu bringen, grenzt ans Unglaubliche. So beschreibt er, wie er verprügelt und einmal sogar gesteinigt wurde. Dreimal habe er Schiffbruch erlitten. Einen Tag und eine Nacht trieb er auf offener See. Auf seinen Reisen drohten Gefahren durch die Natur, durch «falsche Brüder» und Wegelagerer. Seine Missionsreisen waren auch körperliche Grenzerfahrungen:

«Es gab Mühsal und Plage, ich ertrug viele durchwachte Nächte, Hunger und Durst, häufiges Fasten, Kälte und Blösse.» (2. Korinther 11,25–27)

Hier spricht ein Getriebener, ein Getriebener Gottes. Oder einfach ein sturer, ja krankhafter Charakter? Versuche, diesen unerbittlich werbenden, aber körperlich schwachen Apostel mit einem psychischen Leiden in Verbindung zu brin­gen, sind nicht unterblieben. Der Theo­loge und Psychoanalytiker Hermann Fischer etwa vermutet in seinem Buch «Gespaltener christlicher Glaube», Paulus sei mit seinem Sexualtrieb nicht klargekommen und habe sich stattdessen kompromisslos seiner Missionstätigkeit verschrieben.

Eine andere Erklärung wirkt glaubhafter: Paulus war vor allem getragen von seinen Begegnungen mit dem Göttlichen und seiner Verwandlung in einen neuen Menschen. Eine seiner Visionen überwältigte ihn dermassen, dass er sie als Entrückung ins Paradies schildert, wo er «unsagbare Worte hörte, die kein Mensch aussprechen darf».

Wie wurde der Christenjäger zum Missionar?

Es war hell. Heller als die Sonne. Geblendet vom Licht erblindete Saul. Eben war er noch im Jagdfieber gewesen, hatte gehofft, in Damaskus Mitglieder der kleinen Christensekte gefangen zu nehmen. Nun aber sah er nicht mehr, hörte nur die Stimme: «Ich bin Jesus, den du verfolgst.» Diese Vision vom auferstandenen Jesus machte ihn vom Christenhäscher zum christlichen Missionar.

Der grelle Blitz, der Saulus zu Boden warf, hat sich bis heute in unserem Sprachschatz eingebrannt. Eine einschneidende Selbstkenntnis wird als «Damaskuserlebnis» bezeichnet, das jemanden positiv verändert – «vom Saulus zum Paulus». Über extreme Lebenswenden wird bis heute biblisch geredet.

Einerseits haben Psychiater und Publizisten den Berufungsmoment des Paulus immer wieder psychologisiert. Denn passt nicht die paulinische Gnadenlehre exakt zu seiner Biografie? Mit ihr konnte der Christenjäger seine alten Sünden abwaschen und zum neuen Menschen geadelt werden.

Auf der anderen Seite haben viele Theologen gegen das Psychologisieren des Damaskuserlebnisses argumentiert. Paulus stehe in der Tradition der Propheten. Der Apostel selbst schreibt im Galaterbrief, dass er für seine weltumspannende Missionarsrolle bereits im Mutterleib auserwählt war.

Was die Deutungen so schwierig macht: Paulus, der sich gerne in seinen Briefen ins Rampenlicht rückt, erzählt nirgendwo selbst vom lichterfüllten Damaskus­erlebnis, wie es in der Apostelgeschichte (9,3–9) beschrieben wird.

War der Apostel wirklich ein Frauenfeind?

Die Frauen haben in der Gemeinde zu schweigen. Sie sollen sich unterordnen. Und wenn sie etwas lernen wollen, sollen sie zu Hause ihre Männer fragen. Diese Worte, die Paulus im 1. Brief an die Korinther schreibt, haben zusammen mit ähnlichen Aussagen im 1.Timotheusbrief eine fatale Wirkungsgeschichte entfal­tet. Nachfolgende Christen fühlten sich geradezu verpflichtet, die Frauen in Kirche und Gesellschaft ins zweite Glied zu stellen. Vertrat Paulus aber wirklich die Meinung, bei Frauen handle es sich um Menschen zweiter Klasse?

Zum einen war der Apostel ein Kind seiner Herkunft und seiner Zeit. Er beruft sich auf die alttestamentliche Schöpfungsordnung: Zuerst kommt Gott, dann der Mann, dann die Frau. Zum andern betont er aber auch die Gleichheit von Mann und Frau. So schreibt er:

«Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.» (Galater 3,28)

In Paulus’ Wirken spielten Frauen in Wahrheit eine wichtige Rolle; unter den gut fünfzig Mitarbeitern des Apostels, die namentlich bekannt sind, befinden sich etliche Frauen. Am Ende des Briefs an die Römer grüsst er 29 Personen, 10 sind weiblich. Das ist umso bemerkenswerter, als in der damaligen Gesellschaft Frauen allgemein nicht viel galten.

Der Theologe und Pauluskenner Thomas Söding schreibt es so: «Paulus ist ein männlicher Typ mit einer männlichen Sprache, der aber durch seine Theologie, seine Mission und seine Spiritualität mehr für Frauen, ihr Selbstbewusstsein und ihre Freiheit getan hat als alle anderen Figuren des Urchristentums.»

Nachfolgende Generationen versuchten, Paulus’ Wertschätzung gegenüber Frauen rückgängig zu machen. Ein Beispiel: Aus der Apostelin Junia, die Paulus im Römerbrief lobend erwähnt, wurde in späteren Fassungen ein Mann namens «Junias». Heute weiss man, dass dieser Männername in der Antike nicht existier­te. Paulus meinte mit seinem Lob eindeutig eine Frau.

Warum ist für Paulus das Kreuz derart wichtig?

Ein kraftstrotzender Beau wie aus dem Film war Paulus kaum. Gegner schimpften ihn einen Schwächling. Sein radikales Leben als Wanderprediger bescherte ihm Ablehnung, üble Nachrede, chronische Krankheit, Folter und Gefängnis. Vermutlich wurde er um 62 nach Christus in Rom im Rahmen einer Christen­verfolgung hingerichtet.

Paulus interpretierte seine Leidens­er­fahrung als Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Christus, den er so unermüd­lich verkündigte. Als «Mitgekreuzigter» erhoffte er sich ebenso Teilhabe an der Auferstehung des Nazareners und versuchte, mit dieser Botschaft auch andere Frischbekehrte zum Durchhalten zu motivieren. Als religiöse Abweichler litten die frühen Christusgläubigen unter sozialer Isolation, aggressiver Ausgrenzung bis hin zu blutiger Verfolgung.

Theologisch ist Paulus von einem einzigen Factum gefesselt: vom Kreuzestod Jesu und seiner Auferstehung. Ohne Zweifel hat er zur Genüge vom irdischen Jesus, seinen Wundertaten und seiner Verkündigung sprechen gehört. Diese Überlieferungen ignoriert er jedoch und rückt das «Wort vom Kreuz» ins Zentrum:

«Denn ich hatte beschlossen, bei euch nichts anderes zu wissen ausser das eine: Jesus Christus, und zwar den Gekreu­zigten.» (1. Korinther 2,2)

Paulus geht es nicht darum, das Kreuz zu interpretieren, sondern umgekehrt: Das Kreuz interpretiert die ganze Wirklichkeit, insbesondere offenbart es, wer Gott ist, und wer der Mensch ist. Jegliche Weisheit, Herrlichkeit und selbstgerechte Frömmigkeit des Menschen werden entlarvt. Rund 1500 Jahre später hat der Reformator Martin Luther die Kreuzestheologie des Paulus mit ihrer Sprengkraft aufgegriffen, um die selbstherrliche mittelalterliche Kirche zu kritisieren.

Auf einer römischen Wandkritzelei aus dem 3. Jahrhundert ist ein gekreuzigter Esel zu sehen, der von einem Christen verehrt wird (Spottkruzifix vom Palatin). Im Koran entkommt Jesus als göttlicher Prophet der Kreuzigung. In nicht christlichen Wertesystemen ist es absurd oder blasphemisch, den gewaltsamen Tod ei­nes Menschen als Heilsereignis und Offenbarung Gottes zu deuten.

Was bedeutete für Paulus eine ideale Gesellschaft?

Buntgemischte Haufen waren die ersten christusgläubigen Gemeinschaften, die sich in den urbanen Zentren des römischen Reichs bildeten: Jüdinnen und Nichtjuden, einflussreiche Bürger und Sklaven, wohlhabende Hausbesitzerinnen und einfache Handwerker. Kein Wunder also, kam es zu Reibereien.

So etwa bei der Feier des Herrenmahls, einer Vorstufe des heutigen Abendmahls, wo jedoch noch richtig zusammen gegessen wurde. In Korinth zerfiel die gemeinsame Mahlfeier in einzelne Grüppchen: Man setzte sich mit seinesgleichen an den Tisch und wartete nicht aufeinander, die einen schlemmten, andere mussten hungrig wieder nach Hause gehen.

Beim Eingehen auf solche Alltagsprobleme tritt uns Paulus als Mann mit hohen Idealen, gepaart mit profunder Menschenkenntnis, entgegen. Ebenso sehr wie den Glauben an Jesus Christus legt er den jungen Gemeinden die Liebe als Massstab für den Umgang miteinander ans Herz. Einzelne seiner Aussagen gehören zu den meistgeliebten Bibelstellen und fehlen in kaum einem Hochzeitsgottesdienst.

«Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Die grösste unter ih­nen aber ist die Liebe.» (1. Korinther 13,13)

Paulus schwebten Gemeinschaften vor, in denen die gemeinsame Zugehörigkeit zu Christus alle sozialen, ethnischen und ökonomischen Unterschiede aushebelt. Für religiöse oder moralische Helden auf dem Egotrip hat er keine guten Worte übrig. Gefragt sind bei ihm Rücksicht auf Schwächere, Solidarität und die Bereitschaft, sich bescheiden und geduldig in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen.

Der Apostel war überzeugt, dass die Christusgläubigen nur so ihrem Glauben gerecht werden. Ausserdem erhoffte er sich von einem vorbildlichen Zusammenleben einen Imagegewinn für die misstrauisch beargwöhnten christlichen Gemeinden.

Für wen schrieb Paulus denn seine Briefe?

Heute würde Paulus vielleicht skypen. Damals schrieb er Briefe, um mit den von ihm gegründeten Gemeinden in Kontakt zu bleiben. Eine Handvoll solcher Briefe sind alles, was wir aus seiner Hand haben. Sein frühester Brief ist der 1. Thessalonicher und wird auf das Jahr 50 nach Christus datiert. Damit ist er die älteste Schrift des Neuen Testaments.

Die paulinischen Briefe sind echte Briefe, geschrieben für bestimmte Leute aus einem konkreten Anlass. Dennoch sind es nicht einfach private Gelegenheitsschreiben. Sie wurden in den Gemeindeversammlungen vorgelesen und schon früh gesammelt und weitergereicht.

Denn Paulus geht zwar in seinen Briefen auf lokale Fragen und Konflikte ein. Der Apostel denkt jedoch beim Argumentieren grundsätzlich darüber nach, was die Christusbotschaft für das Verhältnis von Gott und Mensch bedeutet und wie sie sich im Leben der Gläubigen auswirken soll. Damit steht Paulus am Anfang christlicher Theologie.

So bezieht sich der Verfasser der Petrusbriefe auf «unser geliebter Bruder Paulus» und ruft ihn als Zeugen auf, um seine eigene Argumentation zu stützen. Wobei er sogleich nachschiebt, dass manches in den paulinischen Briefen nur schwer verständlich sei:

«Die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen es, wie sie es mit allen andern Schriften auch machen – zu ihrem eigenen Verderben!» (2. Petrus 3,16)

Bereits wenige Jahrzehnte nach Paulus’ Tod fand man seine Briefe also schwer verständlich und hat über ihre Interpretation gestritten. Wer Paulus liest, liest fremde Briefe. Sie sind kein Reservoir unumstösslicher theologischer Wahrheiten, sondern laden dazu ein, Analogien zu gegenwärtigen Fragen zu entdecken und zur Diskussion zu stellen.