Über die Monate ist eine Vertrautheit zwischen den beiden gewachsen, die geprägt ist von Offenheit, von Verständnis und Dankbarkeit. Naegeli erinnert sich an seinen letzten Besuch vor Richard Hagedorns Tod: «Du fragtest mich, ob ich mit euch beten würde. Das war ein besonderer Moment, auch für mich.»
Ursula Hagedorn nickt: «Es war eine spontane Idee.» Kurz zuvor habe ihr Mann gesagt, er sei nun bereit heimzugehen. Tränen steigen jetzt in ihre braunen Augen, sprechen geht gerade nicht mehr. Ein mitfühlender Atemzug von Naegeli macht das Schweigen erträglich.
Doch nun richtet sich die Frau wieder auf. «Trauer braucht Zeit», sagt sie bestimmt. Dass der Pfarrer sie auch darin begleite, dafür sei sie extrem dankbar. Nach Richards Tod ist sie in ein Loch gefallen – vor Erschöpfung, aber auch, weil plötzlich alle weg waren: ihr Mann, die Spitex, der Arzt. Ihre erwachsenen Kinder rufen zwar jeden Tag an, sie wolle sie aber nicht zu stark mit ihrem Trauerprozess belasten.
Hagedorn blickt auf die rot-gelben Tulpen, die auf dem Beistelltischchen stehen. «Mein Mann fehlt mir jeden Tag, aber langsam kommt wieder Farbe in mein Leben.» Nach dem Friedhofsbesuch gehe sie oft in die leere Kirche und sitze allein in der Stille. «Das erdet mich und ist etwas vom Schönsten.» Markus Naegeli verabschiedet sich von Ursula Hagedorn und geht zu seinem Auto. Die Sonne scheint und die Luft ist lau. Einen Moment lang wirkt der Frühling zum Greifen nah.
Der Störseelsorger, der von der Kirche in einem 20-Prozent-Pensum angestellt ist, fährt zu seinem nächsten Besuch nach Wald, zum 91-jährigen Henri Wild. Unterwegs erzählt er von seiner zweiten Leidenschaft, dem Amateurfussball. Bald wird der fitte Senior wieder als Schiedsrichter auf dem Rasen stehen, wo ähnlich wie in der Seelsorge seine volle Präsenz gefordert ist. Mitten unter den kräftigen Fussballerinnen und Fussballern in diesem lebendigen Spiel zu sein, sei für ihn ein super Ausgleich zur Begleitung der Sterbenden am Lebensende.
Umfragen zeigen seit Jahren praktisch konstant, dass in der Schweiz drei Viertel der Menschen am liebsten zu Hause sterben möchten. Die Realität sieht allerdings anders aus: 2022 starben laut Bundesamt für Statistik 44 Prozent in einem Heim, 38 Prozent in einem Spital und nur 18 Prozent in ihrem Zuhause oder an übrigen Orten.