Genuss und Gewissensbisse

Fleisch

Kein Lebensmittel führt heute zu so kontrovers geführten Debatten wie das Fleisch. Unter anderem nennen hier zwei Redaktorinnen Gründe, warum sie Fleisch essen – und warum nicht.

Ob man einen Sonntagsbraten serviert oder Tofuwürstchen grilliert, ist heutzutage ein Statement. Fleisch ist mehr als Nahrung: Es war einmal ein lebendiges Tier, es bringt Genuss oder weckt Ablehnung. Fleisch steht für Lust, aber auch für Leiden. 

Ein Schwerpunkt, der verschiedene Wege aufzeigt, wie heute der Umgang mit Fleisch aussehen kann. 

Isabelle Berger, pro: «Lieber seltener und bewusst»

Ich esse Fleisch, denn ich mag es. Um mich ausgewogen zu ernähren, wechsle ich zwischen Fleisch, Fisch, Eiern, Milchprodukten und pflanzlichen Eiweisslieferanten ab. Dass Fleischkonsum problembehaftet ist, beschäftigt mich aber. Das Wohl der Tiere und der Umweltschutz sind mir wichtig. Darum kaufe ich möglichst nachhaltig produziertes Fleisch aus umwelt- und tierfreundlicher Haltung, möglichst direkt vom Bau­ernhof in der nahen Umgebung. Da­für bin ich bereit, einen höheren Preis zu bezahlen. 

Warum aber verzichte ich nicht gänzlich auf Fleisch? Sowohl dem Tierwohl als auch dem Umweltschutz wäre damit ja am besten gedient. Für mich sprechen mehrere Gründe für den Fleischkonsum. Am wichtigsten ist mir der gesundheitliche Aspekt: Fleisch ist ein sehr guter und leicht verfügbarer Proteinlieferant und enthält wichtige Nährstoffe, die zum Teil schwer über andere Lebensmittel zuzuführen sind. Gegen den Verzicht spricht für mich auch, dass Fleischersatzprodukte stark verarbeitet und oft auf­wendig verpackt sind. Ich ziehe Fleisch als ein natürliches Produkt vor, das ich auch mit meinem Tupperware in der Metzgerei oder auf dem Markt verpackungsfrei kaufen kann. 

Je nach Standort eines Bauernbetriebs ist es wirtschaftlich sinnvoll, Fleisch zu produzieren. Nicht jedes Landwirtschaftsland eignet sich für die pflanzliche Lebens­mittelproduktion. Tiere können das Land aber beweiden und liefern so in Form von Fleisch Nahrung für den Menschen. Und: Wer Milchprodukte und Eier isst, sollte bestimmtes Fleisch ebenfalls essen. Es wäre Verschwendung, das Fleisch beispielsweise von Hähnen, Legehennen und für die Milchproduktion nicht geeigneten Rindern nicht zu essen.

Es gibt weitere Gründe, die für den Fleischkonsum sprechen. Rasch sind ein paar Scheiben Aufschnitt ins Proviantbrot eingeklemmt, und los geht die Wanderung. Und beim sonntäglichen Familienessen entspricht der traditionelle Braten mit Kartoffelstock sicher der Würde des Anlasses. Für mich dürfen aber nicht Bequemlichkeit und Tradition den Ausschlag geben, Fleisch zu essen. Ich esse Fleisch lieber seltener, dafür bewusst. So behält es auch den Wert, der ihm als Nahrungsmittel zusteht. 

Vera Kluser, contra: «Kein Tier soll für mich sterben»

Ich ernähre mich seit 25 Jahren vegetarisch. Verzichte also auf Fleisch und Fisch. Eier esse ich mehrheitlich von Hennen, die nach zwei Jahren in Pension gehen dürfen und nicht geschlachtet werden. Natürlich habe ich manchmal Lust auf einen Biss in einen Landjäger oder im Sommer auf eine gegrillte Bratwurst. Aber ich möchte nicht, dass Tiere für meinen kurzen Genussmoment sterben. Auch Produkte aus Leder kaufe ich nicht. 

Eigentlich ist für mich die vegane Ernährung die einzig ethisch vertretbare Wahl, damit gar keine Tiere für meinen Konsum sterben müssen. Doch es fällt mir schwer, auf Käse zu verzichten. Das zeigt, wie tief Essgewohnheiten in uns verankert sind. Deshalb verstehe ich, dass es Fleischessenden trotz Verzichtwillens schwerfällt, ihre Routine zu ändern. 

Ich habe nichts dagegen, wenn sich jemand ab und zu ein gutes Stück Fleisch von einem Tier gönnt, das auf einem Bauernhof ein schö­nes Leben hatte. Aber braucht es denn wirklich Schinken im Sandwich, Poulet im Curry oder Hackfleisch in der Tomatensauce? Bei einigen Gerichten schmeckt man das Fleisch kaum, und trotzdem wird nicht darauf verzichtet. So konsumiert jede Person in der Schweiz durchschnittlich 47 Kilogramm Fleisch pro Jahr, obwohl die Schweizer Lebensmittelpyramide nur 18 Kilogramm empfiehlt. So viel Fleisch brauchen wir nicht, um unsere Gesundheit zu sichern. Ausserdem gibt es viele nährstoffreiche pflanzliche Produkte zur Auswahl. 

Trotzdem entscheiden wir uns dafür, fühlende Lebewesen zu töten. Besonders Schweine sind sensible Wesen, die emotionale Beziehungen aufbauen und komplexe soziale Zusammenhänge verstehen. Klar, ein Mastschwein würde ohne unseren Konsum gar nie geboren werden. Doch dürfen wir einem Tier Leben schenken, nur um es dann wieder zu nehmen? 

Selbst auf die Jagd zu gehen, wäre wohl die natürlichste Lösung. Doch auch das könnte ich moralisch nicht ertragen. Ich stelle mir dann immer vor, ich wäre selbst ein Tier: Was, wenn dieses erlegte Tier meine Freundin, mein Partner ist – jemand, der mir nahesteht? Ein Leben, das plötzlich nicht mehr da ist, nur weil ich einmal in einen Landjäger beissen wollte. Dann verzichte ich lieber ganz darauf. 

Die Welt durch den Fleischwolf gedreht

Das assoziative Denken gehört wohl zu seinen grössten Talenten. Es führt ihn ins Witzgebiet des Unsinns und in die verwunschenen Landschaften des Hintersinns, in denen immer wieder Fallgruben lauern: Der Cartoonist und Grafiker Ruedi Widmer verdankt seine Pointen meistens einem erhellenden Kurzschluss zwischen zwei Gedanken, die einander eigentlich fremd sind. Zur Meisterschaft gebracht hat er das Spiel der Assoziationen in seiner ursprünglich fürs deutsche Satire­magazin «Titanic» entwickelten Bildserie «Die Wirklichkeit, mit Fleisch nachempfunden». Im Internet suchte Widmer nach Bildpaaren, die manchmal einfach grossartigen Blödsinn ergeben, oft aber auch Abgründe freilegen, weil die Welt durch den Fleischwolf gedreht wird und durch den kuscheligen Pelz der Zivilisation das gehäutete Tier des enthemm-ten Kapitalismus hindurchschimmert. fmr 

  

Ruedi Widmer: Die Wirklichkeit, mit Fleisch nachempfunden. Oder: Reality, recreated with meat. Brikett Verlag, 2009, 64 Seiten. Nur noch erhältlich beim Autor: