Schwerpunkt 24. Juni 2020, von Sabine Schüpbach Ziegler

Von der Wohltat, eine Zuhörerin zu haben

Zuhören

Manchmal fühle ich mich in Gesprächen als Stichwortlieferantin. Kaum sage ich was, driftet das Gegenüber ab. Auf eine gute Zuhörerin zu treffen, ist hingegen eine Glückserfahrung.

Plötzlich bemerkte ich die Stille. Die Geräusche im Restaurant waren in den Hintergrund getreten. Während eines langen Gesprächs waren mein Gegenüber und ich eingehüllt in einen Kokon aus Ruhe. Es gab nur uns, keinen Lärm und kein Zeitgefühl. Verblüfft nahm ich wahr: Ich kann in mich selbst hineinschauen wie in klares Wasser.

Ein offenes Ohr

Dieses Erlebnis ist lange her. Ich war damals Studentin und mein Ge­sprächspartner ein gleichaltriger Mu­­siker, der unseren Chor bei einem Konzert begleitet hatte. Wir führten nur dieses eine Gespräch, aber ich habe es nie vergessen. Nicht weil mein Gesprächspartner mich so gut verstanden hätte. Sondern weil er so gut zuhören konnte. Wir sprachen über unsere Studienwahl. Er hörte zu, bis ich endlich richtig erklären konnte, warum mich ausgerechnet die brotlose Germanistik begeisterte. Er schuf einen Raum, in dem ich mich besser kennenlernte. Es war auch spannend, ihm zuzuhören, aber am stärksten in Erinnerung blieb mir sein offenes Ohr.

Einen guten Zuhörer oder eine gute Zuhörerin zu haben, ist etwas Wunderschönes und eine Wohltat.  Leider kommt es nicht allzu oft vor. Häufig verlaufen Gespräche anders. Person A sagt zu Person B: «Heute Morgen ist die Sonnenblume auf meinem Balkon aufgeblüht. Das war ein schöner Tagesbeginn.» Darauf Person B: «Ja, die Begonien in meinem Garten haben dieses Jahr Läuse. Leider wirken diese Bio-Mittel nicht richtig dagegen.» Person B pickt etwas aus dem Satz von Person A heraus und nimmt es zum Anlass, um etwas von sich zu erzählen. Mit dem, was Person A sagen wollte, hat es aber nichts zu tun.

Ein belegtes Herz

Dieses Muster kann man überall stu­dieren – bei Mitfahrern im ÖV, im Migros-Restaurant und natürlich auch in eigenen Gesprächen. Beim einmaligen Smalltalk mit ­einem Frem­den mag es nicht so ins Gewicht fallen. Unangenehmer wird es beim Austauschen unter Freundinnen und in der Partnerschaft, eben in Beziehungen, wo man besonders gerne gehört werden möchte. Ich mag es jedenfalls nicht, wenn ich etwas Persönliches erzähle, worauf meine Gesprächspartnerin sogleich in ihren eigenen Film abdriftet, anstatt auch nur ­eine einzige Nachfrage zu stellen. In solchen Fällen fühle ich mich wie eine Stichwortlieferantin.

Aber auch ich bin manchmal eine schlechte Zuhörerin – leider. Fragt mein Mann genervt «Wie oft willst du das noch fragen?» oder sagt mein Sohn gereizt «Du machst ein Durcheinander in meinem Kopf», weiss ich: Ich habe mal wieder nicht zugehört, weil ich nicht bei der Sache war. Mein Herz und mein Kopf waren mit Gedanken an die Arbeit oder sonstwas belegt.

Denn das macht die aufmerksame Zuhörerin aus: dass sie die ­ei­ge­nen Gedanken, Gefühle, Pläne, Freuden und Sorgen für einen Moment zurückstellen kann. Sie trägt in sich eine Stille. Nebst dem Gespräch in der Studentenkneipe bin ich vielen anderen wunderbaren Zu­hörerinnen und Zuhörern begegnet. Ein solches Gespräch fühlt sich an, als würde ich in einen grossen hellen Raum mit offenen Fenstern eintreten, in dem mich jemand will­kom­men heisst. Ich kann darin nicht nur sprechen, sondern in mich eintauchen und  dabei sogar Neues entdecken, neue Gedanken formulieren. Ich finde passende Worte. Auf diese Weise sorgt ein guter Zuhörer für eine Atmosphäre, die mich für eine Weile beherbergt.

Gute Zuhörer, glaube ich, beherr­schen eine wichtige Kunst. Das Zuhören löst so manches aus: Widerspruch etwa oder Einverständnis, ­eigene Erinnerungen, Assozia­tio­nen, Freude, Ärger und Fragen. Kann der Zuhörer diese Dinge für sich zwar wahrnehmen, aber vorerst für sich behalten, anstatt sofort damit herauszuplatzen, gibt er einem anderen Menschen Raum.

Eine tiefe Erfahrung

Eine aufmerksame Zuhörerin, ein aufmerksamer Zuhörer schenkt dem Gegenüber Zeit und Interesse. Der Erzählende fühlt sich nicht nur gehört, sondern auch gesehen. Dies zu erfahren, geht tiefer als manches Geschnatter. Sodass  man sich auch noch Jahre später daran erinnert, wie still es plötzlich im Kokon aus Ruhe wurde.