Schwerpunkt 24. Juni 2020, von Anouk Holthuizen

Wer verstehen will, muss zuhören können

Zuhören

In einer Welt der Selbstinszenierung wirkt Zuhören veraltet. Doch wir täten gut daran, es zu pflegen. Expertinnen erklären, warum es so wichtig ist und wie es gelingen kann.

Plötzlich hörte man sie, die Amseln, Buchfinken und Hausrotschwänze. Der Lockdown brachte den Verkehr zum Verstummen und die Vögel zum Zwitschern. Viele Menschen nahmen es wahr und erfreuten sich daran. Überhaupt erlebte so mancher, der nicht um seine Gesundheit oder Existenz bangen musste, etwas, nach dem er sich im Alltag vergeblich gesehnt hatte: innere Ruhe.

Viele Leute berichteten, sie hätten dank dieser Musse endlich wieder mal ausgedehnte Gespräche per Telefon oder Computer mit Verwandten und Freunden geführt. Damit scheint das Coronavirus eine Fähigkeit entstaubt zu haben, von der oft behauptet wird, sie sei in unserer durchgetakteten, vom Handy abgelenkten Gesellschaft abhanden gekommen: Zuhören.

Nicht weniger, nur anders

Tatsächlich ist es schwierig, sich einer Person zuzuwenden, wenn man andauernd auf dem Sprung ist. Doch ist das Zuhören wirklich eine bedrohte Tugend?

Margarete Imhof ist Psychologie­­pro­­­fessorin an der Uni Mainz. Sie befasst sich intensiv mit der Frage, wie Menschen zuhören. Sie hält fest: «Wir hören nicht weniger zu, sondern anders. Die Intensität und Dauer haben sich verkürzt.» Weil immer mehr Informationen immer schneller auf immer mehr Kanälen auf den Menschen einprasseln, habe sich seine Aufmerksamkeitsspanne verkürzt. «Der Mensch braucht Zeit, um eine Information zu verarbeiten. Er muss sich zurücklehnen können. Doch das jetzige Tempo verursacht Unruhe. Man hört nur noch in Schnipseln zu.»

Wie gut jemand zuhört, hängt jedoch nicht nur von den äusseren Einflüssen ab, bestimmend ist auch die Lebensphase. Für ein Baby ist Zuhören zunächst die einzige Möglichkeit, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten. Imhof weiss: «Ein Baby kann schon mit vier Wochen unterscheiden, ob jemand in seiner Muttersprache spricht.»

Auch Kinder sind in der Regel auf­merksame Zuhörer, sie lieben es, Geschichten zu hören. Etwas abwärts geht es dann im Teenageralter: Jugendliche stellen die Ohren oft auf Durchzug, als Teil ihres Abnabelungsprozesses. Und im Alter wird das Zuhören definitiv schwieriger: Das Hörvermögen nimmt ab und auch die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.

Die Haltung machts aus

So oder so ist nicht jeder Mensch von Natur aus ein guter Zuhörer. Die eigenen Bedürfnisse, Gedanken und Botschaften stehen zuvorderst, weshalb ein Gespräch oft so verläuft, dass der eine redet und der andere auf den Moment wartet, die Kamera auf sich zu schwenken.

Ob man sich selbst zurückstellen kann, hängt gemäss Imhof von vielen Faktoren ab. Unter anderem von der Haltung. «Wer das Gefühl hat, sowieso schon alles zu wissen und nichts Neues lernen zu können, hört nicht genau hin.» ­Eine Rol­le spiele auch der Charakter: «Manche stellen sich gern selbst dar und treten ungern aus dem Scheinwerferlicht.» Bestimmend sei ebenso die Situation: Manchmal könne man schlicht deshalb nicht zuhören, weil das Gehirn im Augenblick gerade ausgelastet sei. 

Für die Professorin ist aufmerksames Zuhören eine grundlegende Bedingung für die menschliche Interaktion sowie Kommunikation. «Zuhören wird in allen Bereichen des professionellen, kulturellen und privaten Umfelds verlangt. Wer ver­stehen will, worum es geht, muss gut zuhören können.» Imhof plädiert deshalb dafür, dass Zuhören in der Schule stärker gefördert wird. «Kinder lernen lesen, schreiben und sprechen, leider aber wird ihre Hörkompetenz nicht gestärkt.» Wer hin­hören  und sich auf den Standpunkt des anderen einlassen könne, vermöge kritischer und eigenständiger zu denken.

Das Ohr der Verliebten

Wie man besser zuhören kann, versucht Birgit Kollmeyer tagtäglich zu vermitteln. In ihrer Praxis in Bern berät die Paartherapeutin und langjährige Leiterin des universitären Programms «Paarlife» Frauen und Männer, die in einer Beziehungskrise stecken. Viele dieser Paare haben sich den Satz «Du hörst mir gar nicht zu!» jahrelang um die Ohren geschla­gen – ein Satz, den sie zu Beginn der Beziehung garantiert nie fallen liessen. «Wenn wir verliebt sind, hören wir intensiv dem anderen zu», sagt Birgit Kollmeyer. «Man möchte vom anderen nichts verpassen und am liebsten mit ihm verschmelzen.»

Das anfänglich hohe Interesse sei jedoch nicht der Normal-, sondern ein Ausnahmezustand.  «Nach einigen Monaten findet wieder die Differenzierung statt, und die Partner bringen vermehrt ihre eigene Perspektive ein.» Das empfänden viele als Ernüchterung, und so mancher bekomme den Eindruck, der Partner würde schlechter zuhören.

Zerstreut und flapsig

Schafft es ein Paar nicht, die aufmerksame Zuwendung zu pflegen, gerät es häufig in eine kommuni­kative Abwärtsspirale. Reagiert der Partner auf eine Erzählung mit ­ei­nem zerstreuten «Hmmm?» oder einer flap­sigen Bemerkung, kann das ziem­­­lich weh tun. «Denn wer nicht mehr hinhört, sendet das Signal aus, dass der andere nicht wichtig ist», führt Kollmeyer aus. «Wir Menschen sind jedoch soziale Wesen und brauchen Wertschätzung. Aus diesem Grund ist gutes Zuhören eine wichtige Kompetenz für eine gelingende Partnerschaft.»

In den Sitzungen trainiert Kollmeyer mit den Klienten, was sie selbst als Therapeutin anwendet: ak­tives Zuhören. Der Zuhörende soll versuchen, sich aufmerksam und mit einer offenen Haltung zuzuwen­den, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und einzufühlen. Dann meldet er zurück, was er von den Gefühlen verstanden hat. «Ideal wäre, wenn wir das in der Familie lernen würden», sagt Kollmeyer. Denn gutes Zuhören brauche Übung. Und noch etwas: die Ehrlichkeit, dem Part­ner zu sagen, wenn der Moment für ein Gespräch gerade ungünstig ist. «Das ist viel respektvoller als so zu tun, als ob man zuhöre.»

Hörend die Welt erkunden

Gutes Hinhören versucht auch Fran­ziska Breuning Menschen schmackhaft zu machen. Sie ist Kulturwissenschaftlerin und Mitbegründerin des Vereins «Zuhören Schweiz», des­sen Projekte die Freude am Zuhören bei Kindern, Jugendlichen und vermehrt auch Erwachsenen wecken sollen. Auf sogenannten «Hörspaziergängen» erfahren die Teilnehmenden eine Umgebung anhand ihrer Geräusche. In «ears at work» sammeln Jugendliche Töne aus Arbeitskontexten und produzieren mit Musikern Songs oder Toncollagen, mit denen sie Berufe porträtieren.

Der Verein entstand durch die jah­relange Zusammenarbeit Breunings mit der Musikerin Sylwia Zy­tynska bei der Basler Kinderkon­zertbühne «gare des enfants». Nebst dem Musikmachen wurde dort das Zuhören immer mehr zum Thema. «Kinder hören gerne zu. In der Schu­le steht aber oft die Erwartung an aufmerksames Zuhören im Vordergrund, weniger an lustvolles Hören. Mit Projekten wie ‹HörSpielZeit› möchten wir spielerische Zugänge für die Förderung des Zuhörens im Unterricht anbieten.»

Ihr erstes Projekt «So tönt unsere Welt» dauert noch immer an. Darin erarbeiten Kinder zusammen mit Musikern und Audiogestaltern Hör­stücke über ihre Umgebung. «Menschen sind sehr visuell unterwegs», so Breuning. «Wenn wir die Kinder fragen, was sie auf dem Schulweg gehört haben, erinnern sie sich an kaum etwas.» Nach den Wahrnehmungsübungen würden sie beim nächsten Mal viele Geräusche auflisten: das Rauschen des Bachs, Absatzklacken, Hundegebell.

Dieselbe Erfahrung mache auch die Generation, die am liebsten mit Kopfhörern unterwegs ist. «Auf dem letzten Hörspaziergang konnte sich eine Jugendliche nicht vorstellen, auch nur eine Stunde ohne Airpods draussen zu sein», erzählt Breuning. «Doch dann nahm sie entzückt Alltagsgeräusche des Quartiers und Vo­gelstimmen auf.» Die Welt sei um einiges reicher, wenn man genau hinhöre.

Ein Audioformat erobert die Jugend

Seit der Einführung des ersten Smartphones im Jahr 2006 erfreut sich ein Format zunehmender Beliebtheit: der sogenannte Podcast. Das ist eine Serie von Audioinhalten zu x-beliebigen Themen, die auf Abruf gehört werden kann.  Gemäss einer Umfrage von SRF im Jahr 2019 hören rund 12,5 Prozent mindestens ein Mal in der Woche Podcasts, am häufigsten die Gruppe der 15- bis 29-Jährigen. «Jüngere Menschen holen sich Informationen viel mehr im Netz als ältere», weiss Tho­mas Friemel, Medienforscher an der Universität Zürich. Der Podcast habe sich mit der Digitali­sierung und zu­nehmenden Mobilität der Gesellschaft entwickelt. «Viele hören sie in einem bestimmten Zeit-slot, etwa im Zug oder beim Sport.» Man könne seine Themen flexibel wäh­len, zeitlich und inhaltlich passend.