«Gott mit dem Ohr des Herzens hören»

Zuhören

Lars Syring praktiziert das Herzensgebet – für den Pfarrer eine Möglichkeit, Gott zuzuhören. Worauf er dabei achtet, was er vernimmt und warum das Herz in der Bibel Ohren hat.

Menschen zuzuhören, ist eine Kunst. Kann man auch Gott zuhören?

Lars Syring: Ja, wenn ich das übe. Diese Frage stellt sich erst, wenn wir länger regelmässig beten. Am Anfang lernen wir, dass Beten bedeutet, mit Gott zu reden. So habe ich das auch meinen Kindern vermittelt, als sie klein waren. Irgendwann klagten sie: «Ich rede mit Gott, aber er antwortet mir nicht.»

Was haben Sie ihnen gesagt?

Dass wir Gott nur selten mit den Oh­ren hören. Aber dass wir lernen können, es mit dem Herzen zu tun. Für Kinder in der magischen Phase zwischen dem dritten und dem fünf­ten Lebensjahr ist das Gebet wie ein Wunscherfüllungs­automat. Merken sie dann, dass Gott ­ihre Wünsche nicht oder nicht immer erfüllt, kommen Zweifel auf. Früher oder später durchläuft jeder Mensch, der sich auf Gott einlässt, diesen Prozess. Wer damit umgehen lernt, kann Gott hören lernen.

Wie hören Sie ihn oder sie denn?

Wie im Gespräch mit einem Freund. Dort rede nicht nur ich, sondern ich gebe dem Freund Gelegenheit, etwas zu sagen. So geht es auch beim Beten darum, mich aus der Mitte zu nehmen und zurückzustellen. Dann kann ich anfangen zu hören.

Auf welche Art beten Sie?

Ich übe seit bald 20 Jahren das Herzensgebet. Das ist eine alte Gebetsform, die schon die ersten Christin­nen und Christen geübt haben. Ich bete täglich eine halbe Stunde inten­siv. Und dann läuft es im Alltag mit. Manchmal stehe ich nach dem Beten auf und weiss etwas, das ich vorher noch nicht wusste. Das schreibe ich Gott zu.

Wie kann eine solche neue Erkennt­nis aussehen? 

Es muss nichts Spektakuläres sein. Vielleicht wird mir klar, wie ich in einer verfahrenen Situation anders reagieren kann. Oder es ist ganz ein­­f­ach überraschend. Ein Wort, das mich trifft, existenziell berührt.

Wie läuft das Herzensgebet ab?

In der Übungseinheit sitze ich auf dem Meditationsbänkchen und gebe meinem Atem ein Gebetswort mit. Beim Einatmen sage ich inner­lich «Herr Jesus Christus». Beim Aus­­atmen «Sohn Gottes, erbarme dich meiner». Andere Worte sind ebenfalls möglich, aber ich halte mich an die klassische Gebetsformel. Wenn ich im Garten arbeite und nicht so viel Luft habe, verkürze ich auf «Jesus» – «Christus».

Das Herz ist für mich der Ort, an dem wir anders wahrnehmen als mit unseren fünf Sinnen.
Lars Syring, Pfarrer

Beten Sie denn die ganze Zeit?

Das ist das Ziel. Das Gebet läuft den ganzen Tag und die ganze Nacht über mit. Das ist quasi meine Grund­schwin­gung. Und ich mache jeden Tag einen neuen Anfang.

Was bewirkt das Herzensgebet?

Ich bin innerlich ruhiger geworden, weniger ängstlich als früher. Auch sensibler und aufmerksamer für Fragen rund um Gerechtigkeit.

Ihren Kindern sagten Sie, man könne Gott mit dem Herzen hören lernen. Für was steht das Herz?

Das Herz ist für mich der Ort, an dem wir anders wahrnehmen als mit den fünf Sinnen. In der biblischen Tradition hat das Herz Augen und Ohren. Mit ihnen sehen und hören wir das, was wir uns nicht selbst sagen können. Mit dem Ohr des Herzens hören bedeutet, berührt zu werden und mit meiner Quelle in Kontakt zu kommen.

Jesus sagt in der Bibel oft: «Wer Oh­ren hat zu hören, der höre!»

Es ist nicht selbstverständlich, dass wir mit den Ohren, die wir haben, hören können. Jesus geht es um das Ohr des Herzens, das wir Menschen empfangsbereit machen können.

Sind Sie immer sicher, dass Sie Gott hören, und nichts anderes?

Auf das Beten folgt die Unterscheidung der Geister. Dabei muss ich die Erkenntnisse, die mir zugefallen sind,  überprüfen. Traditioneller­weise geschieht das in einer Gemeinschaft und einem Lehrer. Habe ich wirklich Gott gehört? Oder handelt es sich eher um Persönlichkeits­anteile von mir selbst?

Eine knifflige Unterscheidung.

Es gibt ein einfaches Kriterium: Macht mich das, was ich erlebt habe, liebevoller? Wenn ja, kommt es höchstwahrscheinlich von Gott. Es geht aber nicht so sehr um das, was ich beim Beten erlebe, sondern vielmehr um die Konsequezen, die ich daraus für mein Leben ziehe.

Mit wem besprechen Sie sich?

Ich bin im Austausch mit meiner Frau, meinem geistlichen Begleiter und mit Menschen aus der kleinen Meditationsgruppe in unserer Kirchgemeinde. Übrigens zeige ich auch den Konfirmandinnen und Kon­firmanden meine Übungen.

Und wie reagieren sie?

Unterschiedlich. In einem Wahlkurs erkläre ich ihnen, wie die Meditationsübungen in der Schule, etwa bei Prüfungen, und im Alltag helfen. Ich zeige ihnen Übungen zur Stärkung des eigenen Willens, zur Steuerung der Gefühle und fürs kla­re Denken. Über die Intensität des Übens können sie steuern, wie tief sie einsteigen wollen.

Zielen die Übungen mehr auf Gesundheit als auf Spiritualität?

Nein. Aber Spiritualität hat direkte positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Solche Übungen können ein Einstieg sein. Übt man intensiver und länger, öffnet sich irgendwann das Ohr des Herzens.

Für die Reformatoren war das Bibel­lesen ein Hören auf das Wort Gottes. Ist es das für Sie auch?

Das Bibellesen gehört zum Herzens­gebet und zur Unterscheidung der Geister dazu. Allerdings lese ich die Bibel anders, seit ich einen geistigen Weg gehe – eben auch in ­einem geistigen Sinn.

Was bedeutet das?

Der Evangelist Markus erzählt die Geschichte, in der Jesus einen Sturm stillt. Das Schiff, in dem die Jünger mit Jesus unterwegs sind, ist mein Lebensschiff. Das gerät manchmal in den Sturm. Die Frage ist: Wie kann ich dem Sturm trotzen und Ruhe be­wahren? Im Ideal­fall so wie Jesus. Der liegt auf ­einem Kissen und schläft. Die Frage drängt sich auf: Was ist mein Kissen, auf dem ich sicher bin, wo mir das Unwetter nichts anhaben kann? Wenn ich das weiss, kann ich dem Sturm Einhalt gebieten, wie Jesus es schliesslich tut, und verzettele mich nicht im Aktionismus wie die Jünger.

Kommt es vor, dass Sie Gott nicht hören, so gut Sie auch zuhören?

Sicher. Und ich höre nicht immer das, was ich hören will. Dramatische Folgen hatte das Hören Gottes, schon bevor ich zu meditieren begann. Ich habe in Deutschland studiert, konnte dort aber kein Vikariat machen. Meinen Traumberuf Pfar­rer hatte ich schon aufgegeben. Dann wurde in mir das Wort «Geh in die Schweiz» immer lauter – bis sich mir ein Weg öffnete, hierher zu kommen und Pfarrer zu werden. Dabei wollte ich nie ins Ausland!

Und Sie glauben, damit Gottes Stimme gehört zu haben?

Das empfinde ich so. In der Schweiz haben mich unfassbar viele Menschen freundlich aufgenommen.

Und wie steht es mit Gott – ist sie eine gute Zuhörerin?

(Lacht) Das ist vertrackt. Laut dem Psalm 139 weiss Gott, was ich sagen will, bevor ich es ausspreche. Und dieses «Du» weiss, was ich brauche, bevor ich darum bitte, wie es in Matthäus 6,8 heisst. Um Gott mache ich mir keine Sorgen. Es geht darum, ob ich ein guter Zuhörer bin.

Lars Syring, 48

Lars Syring, 48

Er ist seit 19 Jahren Pfarrer in Bühler AR. Geboren in Ostwestfalen, studierte er in Deutschland evangelische Theologie. Sein Vikariat absolvierte er im Appenzellerland. Lars Syring war schon Telefonseelsorger und ist Spiritual MAS sowie Trainer in Liturgischer Präsenz. Er wirkt auch als Synodaler im Parlament der Evangelischen Kirche Schweiz. Syring ist verheiratet und Vater von drei Kindern.