Sie präsidieren die Akademie Menschenmedizin. Wo kommt die Menschlichkeit im Gesundheitssystem heute zu kurz?
Annina Hess-Cabalzar: Das Gesundheitswesen ist zum Geschäft geworden und nicht mehr primär auf den Menschen ausgerichtet. Geld und Gewinn stehen im Vordergrund. Das führt zu mehr unnötigen und teuren Behandlungen und kurbelt Wettbewerb und Markt an. Dinge, die aus Sicht der AMM im Gesundheitswesen nichts zu suchen haben.
Das ist harsche Kritik. Woran machen Sie diese fest?
Es werden falsche Anreize gesetzt, die weder dem Wohl der Patienten noch demjenigen des Personals dienen. Im Gesundheitswesen arbeiten viele sehr engagierte und motivierte Leute. Doch die ständige Fokussierung auf Wettbewerb und aufs Geld nagt an den Leuten. Viele verlassen deshalb den Beruf.
Wie konnte es dazu kommen?
Bei der Spitalfinanzierung kam es 2012 zu einem Paradigmenwechsel. Bund und Kantone entschieden sich für ein kommerzielles Gesundheitswesen. Bis dahin verrechneten die Spitäler ihre effektiv erbrachten Leistungen. Heute erhalten sie stattdessen sogenannte diagnosebezogene Fallpauschalen. Ein Beispiel: Ob Frau Müller mit einer bestimmten Diagnose zwei oder fünf Tage im Spital bleibt, ändert nichts an der Höhe der Pauschale, die das Spital erhält. Auf der Arztvisite geht es deshalb bei jedem Patienten auch ums Geld.
Im Hintergrund läuft also immer die Rechnung.
Genau. Alle sind unter Druck, auf allen Stufen der Hierarchie. Wenn medizinische Handlungen unterlassen werden, weil sie unnötig oder sinnlos sind, ist das verantwortungsvolle Medizin. Aus kommerzieller Sicht ist es jedoch eine verpasste finanzielle Einnahme.