Wenn Ärztin und Pfleger im Wohnzimmer arbeiten

Spital

 Infusionsflasche an der Vorhangstange, Vitalwerte ins Spital übertragen: Ruth Weber wird mit einer Lungenentzündung in den eigenen vier Wänden behandelt. Das Modell ist im Trend.

Elisa Heising ist Ärztin und auf Visite. Normalerweise klopft sie kurz an die Tür und betritt das Spitalzimmer. An diesem Vormittag klingelt sie bei einem Wohnhaus in Zürich-Hottingen. Kurz darauf sind Schritte zu hören. Ruth Weber öffnet. «Hereinspaziert», sagt die 94-jährige Dame, die einen beeindruckend rüstigen Eindruck macht. Umso mehr, wenn man weiss, dass sie eine schwere Lungenentzündung auskuriert.

Mit dieser Diagnose müsste Ruth Weber eigentlich in einem Spitalbett liegen. Aber sie ist daheim, trägt Bluse statt Pyjama und hat etwas Lippenstift aufgetragen. Einige Tage zuvor hatte sich Weber auf der Notaufnahme des Spitals Zollikerberg damit einverstanden erklärt, «Visit – Spital zuhause» in Anspruch zu nehmen. Ärztin Elisa Heising und Pflegefachmann Pablo Mesa sind ihr Betreuungsteam. 

Schimpfende Patentochter 

«Meine Patentochter hat ein bisschen mit mir geschimpft. Im Spital wäre ich doch viel besser aufgehoben, sagte sie», erzählt Ruth Weber auf dem Weg ins Wohnzimmer. «Ich rief sie erst an, nachdem mich die Ambulanz wieder heimgebracht hatte.» Sie kichert und nimmt für die Untersuchung in ihrem Lieblingssessel Platz. «Hier sitze ich oft mit einem Hörbuch.» Ruth Weber sieht nicht mehr gut. Auch deshalb ist sie froh, sich in ihrer vertrauten Umgebung bewegen zu können. 

Mit Husten, Atemnot und Herzrhythmusstörungen wandte sich die Seniorin zuerst an ihren Hausarzt. Ein klarer Fall fürs Spital, befand dieser. Aber als Ruth Weber auf der Notaufnahme erfuhr, dass sie sich auch daheim behandeln lassen könnte, überlegte sie nicht lange: «Das ist doch viel angenehmer.» 

Improvisationstalent gefragt 

Vom «Hospital at home»-Modell (HaH) hatte sie bis dahin nie gehört. Im Ausland ist es in Akutspitälern in über 30 Ländern etabliert, hierzulande steckt es noch in den Kinderschuhen. Das Spital Zollikerberg hat es im Jahr 2021 als erstes Schweizer Spital in einem Pilotversuch getestet und will es ab 2027 in den Regelbetrieb überführen.  

Elisa Heising und Pablo Mesa legen alles für die Untersuchung bereit: Ultraschallgerät, Röhrchen für die Blutentnahme, Stethoskop. Im Hintergrund läuft das Radio. Für die Visite sind jeweils eine Ärztin oder ein Arzt und eine Pflegefachperson auf Tour, in der Nacht sind nur Pflegende unterwegs. Sie fahren mit dem Auto von Wohnung zu Wohnung und besprechen unterwegs die Fälle. 

Vor Ort ist meistens Improvisationstalent gefragt: Wo lässt sich zum Beispiel die Flasche mit der Infusionslösung aufhängen? Die Vorhangschiene hinter dem Ledersessel hat sich in Webers Zimmer als ideal erwiesen. «Das sieht ganz hübsch aus», findet die Patientin. 

Der Fokus des medizinischen Teams verschiebt sich: Im Spital sind wir in unserem Reich, beim Modell Visit sind wir zu Gast.
Elisa Heising, Ärztin

Ruth Weber ist alleinstehend. Ihre Wohnung befindet sich in einer Alterssiedlung. Bei anderen Hausbesuchen sind oft auch Angehörige anwesend. Oder Haustiere. «Es kam auch schon vor, dass uns ein wachsamer Hund nicht in die Wohnung lassen wollte», erzählt Elisa Heising lachend. Solche Anekdoten machen für sie deutlich, wie sich der Fokus des medizinischen Teams beim neuen Modell verschiebt: «Im Spital sind wir in unserem Reich, beim Modell Visit sind wir zu Gast.» 

Ärztin Elisa Heising begleitet das Projekt Visit seit den Anfängen. Sie sagt: «Gerade für ältere Menschen bietet eine Behandlung in den eigenen vier Wänden viele Vorteile.» Sie bewegen sich daheim deutlich mehr, ihre Fähigkeiten im Alltag bleiben erhalten. Und auch Verwirrtheit und Schlafprobleme treten zu Hause deutlich weniger auf. Das Risiko einer Spitalinfektion wird reduziert, insgesamt werden die Patientinnen und Patienten schneller gesund. 

Liveübertragung ins Spital 

Diese Vorteile zeigt die wissenschaftliche Auswertung, die das Projekt begleitet. Über 320 Patientinnen und Patienten wurden bisher in ihrem Zuhause «spitaläquivalent» betreut, wie es im Fachjargon heisst. Alle Betroffenen gesundeten schneller als Personen, die mit der gleichen Diagnose im Spital lagen. 

Für Ruth Weber ist der Grund klar: «Ich bin in meinen eigenen vier Wänden einfach entspannter.» Zu Beginn der Erkrankung hatte sie starken Husten und lag deshalb oft wach. In ihrer Wohnung konnte sie aufstehen, sich einen Tee kochen und im Sessel sitzen. 

Ihre Vitalfunktionen wurden derweil mittels Elektroden am Körper in Echtzeit ins Spital Zollikerberg übertragen. Hätten sich Blutdruck, Puls, Temperatur oder Atmung verschlechtert, hätte die zuständige Person im Stationszimmer einen Alarm erhalten. «Ich bekam auch ein spezielles Telefon, mit dem ich mich direkt beim Behandlungsteam im Spital hätte melden können», sagt Ruth Weber. Sie habe sich sehr sicher gefühlt und nie überlegt, doch ins Spital umzuziehen. 

Spitex sieht Gefahr von Parallelstrukturen

Hört man der Patientin und dem Team zu, erhält man den Eindruck, ein solches Modell habe nur Vorteile. Es gibt aber auch kritische Stimmen: Der Verband Spitex Schweiz ist der Meinung, dass Spitäler und Politik keine teuren Parallelstrukturen aufbauen und durch ein separates Finanzierungssystem ungleiche Spiesse schaffen dürften.

«Die Spitex bietet bereits heute qualitativ hochstehende und komplexe Akutpflege zu Hause an. Darum muss sie bei der Entwicklung dieser neuen Modelle eine wichtige Rolle spielen», sagt Kommunikationsleiterin Denise Birchler auf Anfrage. 60'000 Spitex-Mitarbeitende sind bei Menschen daheim im Einsatz. «Diese riesige Expertise gilt es zu nutzen.» Wichtig findet aber auch die Spitex, dass die gesundheitspolitische Strategie «ambulant vor stationär» weiterentwickelt wird. 

Der Hauptgrund für unseren Pilotversuch war der Mensch. Er steht bei diesem Modell viel stärker im Zentrum als im klassischen Spitalbetrieb.
Christian Ernst, Co-Projektleiter von Visit und Experte für Notfallpflege

Das Spital Zollikerberg versteht sich nicht als Konkurrenz zur Spitex: «Würden sich unsere Patientinnen und Patienten nicht für das Modell Visit entscheiden, lägen sie in einem Spitalbett. Sie würden also in dieser Zeit auch nicht von der Spitex betreut», sagt Christian Ernst. Er ist Co-Projektleiter von Visit und Experte für Notfallpflege. Die Spitex sei eine bewährte Partnerin im Gesundheitswesen, betont er. Das werde sich mit dem neuen Modell nicht ändern. 

Warum will das Spital Zollikerberg gewisse Patienten überhaupt daheim versorgen? Spontan denkt man an wirtschaftliche Gründe: Eine kranke Person zu Hause beansprucht nicht die Infrastruktur des Spitals. Christian Ernst schüttelt den Kopf: «Der Hauptgrund für unseren Pilotversuch war der Mensch. Er steht bei diesem Modell viel stärker im Zentrum als im klassischen Spitalbetrieb.» 

Einsparungen seien nicht das primäre Ziel gewesen, dennoch dürfe man mittelfristig mit ihnen rechnen. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass Behandlungen zu Hause 30 bis 40 Prozent günstiger sind. Ermöglicht wurde der Versuch durch die Stiftung Diakoniewerk Neumünster. Sie ist Trägerin der «Gesundheitswelt Zollikerberg», wie die Gruppe heisst. 

Lieber im Aussendienst 

In der Wohnung von Ruth Weber läuft die Untersuchung. Die Patientin hat kein Fieber. Auf dem Ultraschall-Monitor ist keine Flüssigkeit auf der Lunge mehr zu sehen. «Schön, Sie sind praktisch wieder gesund», sagt Pflegefachmann Pablo Mesa. Er bespricht mit Ruth Weber den Austritt. Manchmal übernimmt er auch Aufgaben, die im Spital ein Arzt ausführen würde, dafür führt umgekehrt die Ärztin wenn nötig pflegerische Tätigkeiten durch.

«Im Visit-Team arbeiten wir berufsübergreifend und auf Augenhöhe, das gefällt mir», sagt Mesa. Grundsätzlich ist er im Team von Visit unterwegs, bei Bedarf hilft er auf den Stationen aus. Er sei lieber bei Patientinnen und Patienten daheim, manchen Mitarbeitenden gefalle der Spitalbetrieb besser. «Gut, können wir auswählen.» 

Kanton unterstützt Projekte 

Inzwischen bieten verschiedene Spitäler HaH-Modelle an. Auch in der Ausbildung ist das neue Modell angekommen: Die Berner Fachhochschule (BFH) hat ein Kompetenzzentrum gegründet für Forschung auf diesem Gebiet. 

Es fliessen auch öffentliche Gelder für «Spital at home»-Projekte. Der Kanton Zürich subventioniert zwei: jenes des Spitals Zollikerberg sowie eines der Hospital@Home AG. Bis 2026 sind dafür insgesamt 1,8 Millionen Franken budgetiert. 

«Die Gesundheitsdirektion fördert visionäre, zukunftsfähige Behandlungsformen», sagt Jörg Gruber, der die Versorgungsplanung leitet. Der  Kanton habe nicht zuletzt ein Interesse an der Wirtschaftlichkeit. Das Spital Zollikerberg ist für die Finanzierung des neuen Modells auch mit Krankenkassen im Gespräch. 

Heute sagen wir: Wir behandeln alles daheim, was wir gleich gut behandeln können wie im Spital.
Elisa Heising, Ärztin

Mithilfe der modernen Technik und der Telemedizin sei daheim sehr vieles gut behandelbar, sagt Ärztin Elisa Heising. Am häufigsten wurden bisher Lungenentzündungen, Harnwegsinfekte, Nierenbeckenentzündungen oder Weichteilinfekte behandelt. «Operationen auf dem Küchentisch machen wir aber noch keine», wirft Pflegefachmann Pablo Mesa mit einem Augenzwinkern ein. «Zum Glück!», ruft Ruth Weber. 

Kurz nach Beginn des Projekts sei man beinahe übervorsichtig gewesen, erinnert sich die Ärztin. «Heute sagen wir: Wir behandeln alles daheim, was wir gleich gut behandeln können wie im Spital.» 

Bedingungen müssen erfüllt sein

Für Visit sind gewisse Aufnahmebedingungen nötig: Die kranke Person muss in einem Umkreis von 15 Fahrminuten zum Spital wohnen, damit das Team im Notfall innert kurzer Zeit bei ihr sein kann. Sie muss selbstständig zur Toilette gehen und ihre Mahlzeiten organisieren können. «Selbstverständlich darf man auch im Spital bleiben, wenn man sich dort wohler fühlt», betont die Ärztin. 

Pablo Mesa und Elisa Heising packen ihre Sachen zusammen. Auch die Ärztin mag den «Aussendienst». «Es wird einem bewusst, dass hinter jedem Patienten und jeder Patientin ein Mensch mit seiner Lebensgeschichte steht», sagt sie. 

Die Verabschiedung ist herzlich. «Alles Gute, Frau Weber. Es war eine Freude, Sie kennenzulernen», sagt Mesa. Während fünf Tagen hat Ruth Weber mehrmals täglich vom Visit-Team Besuch bekommen, jetzt wird sie «entlassen». Natürlich sei sie froh darüber, wieder gesund zu sein, sagt sie. «Diese beiden werde ich aber schon ein wenig vermissen.» Nachdem Ruth Weber ihre Wohnungstür geschlossen hat, ist sie keine Patientin mehr.