Recherche 25. September 2020, von Bettina Gugger

In der Burnout-Klinik in Susch ist Spiritualität zentral.

Gesundheit

Michael Pfaff, Chefarzt und Theologe misst der Spiritualität in der Clinica Holistica in Susch eine besondere Bedeutung zu.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) beschreibt das «Burnout» als Prozess- und Risikozustand, bei dem es durch anhaltend erlebten Stress zu Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Magengeschwüren kommen kann. Michael Pfaff, der ärztliche Direktor und Chefarzt der Clinica Holistica Engiadina in Susch, sagt: «Investiert ein Mensch dauerhaft mehr Energie, als er zurückbekommt, brennt er aus.» Die moderne Arbeitswelt begüns­tigt diesen Prozess. Seit der Industrialisierung seien die gesundheit­lichen Folgen einer veränderten Arbeitswelt, die natürliche Rhythmen ignoriere, bekannt, wie Pfaff resümiert. Die Stiftung Gesundheits­förderung Schweiz bilanziert im Job-­Stress-Index 2020, dass 29,6 Pro­zent der Erwerbstätigen am Arbeits­platz einer Belastung ausgesetzt sind, die ihre Ressourcen übersteigt.

Sinne schärfen   

Um die persönlichen Ressourcen zu stärken, steht in Susch die Selbstwahrnehmung im Fokus. Neben Ge­sprächs-, Sport-, Bewegungstherapie und Entspannung gehört auch die Gestaltungstherapie als ein Bereich der Kunsttherapie zum Be­hand­­lungs­konzept. Joanne Weder schafft als Gestaltungstherapeutin einen Raum, indem sich die Patien­ten individuell ausdrücken können. «Sich ohne Erwartungs- und Leistungsdruck einem kreativen Prozess hinzugeben, fällt vielen Menschen anfangs schwer», so Weder. Über die Sinnesebene finden die Patienten wieder einen Zugang zu sich und ihren Bedürfnissen, die zu lange zu kurz kamen. Weder sieht in der Gefühlsfeindlichkeit unserer Gesellschaft eine Wurzel von «Burnout» und De­pressionen.«Ungelebte Gefühle wie Trau­er nähren Depressionen. Der Organismus denkt langfristig», sagt We­der, «ungelöste Konflikte und Traumata, Lebensweisen, die sich ge­gen das Herz richten, führen früher oder später zu Problemen.»

Grenzen kennen

Bei einem Klinikaufenthalt geht es um mehr als um Symptom­be­kämpfung. «Die Selbstfürsorge ler­nen die Patienten nicht als An­wen­dung von Zehn-Punkte-Plänen», sagt Pfaff. Heilung bedeutet für ihn, über eine gute innere und äussere Ordnung zu verfügen. Jeder Mensch trägt sowohl einen fürsorglichen wie auch einen bedürftigen Teil in sich. In der spirituellen Haltung spiegelt sich das Wissen um die eigenen Grenzen. «Viele Patienten kommen als im christlichen Sinne Unerlöste in die Klinik. Sie leiden unter dem ständigen Druck, ihr Daseins­recht beweisen zu müssen», so Pfaff. In Susch gewinnen die Patienten wieder Selbstvertrauen, indem sie sich als Teil der Natur erfahren, und so einer relativierenden und auch Halt gebenden Sphäre ausser sich begegnen. Die transzendente Haltung fliesst nonverbal in die Therapie mit ein, wobei die Therapeuten eine neutrale Position einnehmen. Das Element der Achtsamkeit zieht sich durch alle Aktivitäten hindurch, sei dies in der Körperwahrnehmung oder im Dialog. Der Patient lernt, den Zugang zur eigenen Natur wiederzufinden und in akzeptierendem Kontakt mit sich selbst zu sein.

Gelebte Nächstenliebe

Pfaff verweist auf die persönliche Dimension im christlichen Glauben. Den «Mut zum Selbstsein» findet der Mediziner in der biblischen Botschaft genauso wie in den Schriften des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Die Offenheit in Pfaffs Denken und die Lust an der Formulierung wurzeln in seinem Theologiestudium in Tübingen und Berlin. Das Medizinstudium folgte erst später. Was ihn antreibt, ist die gelebte Nächstenliebe. Es beschäftigt ihn, dass in der Diskussion um die Corona-Krise jeder Mensch zur potenziellen Bedroh­ung fürs Gegenüber stilisiert wird. «Die fehlende Diskussion über die menschlichen Bedürfnisse, die in den weltweit von China übernommenen Massnahmen auf der Strecke bleiben, stimmt mich nach­denk­lich.» Homeoffice und flexible Arbeitszeiten würden neben den existenziellen Ängsten zu weiteren Belastungsfaktoren. Obwohl die Industrie mit einem blauen Auge davon gekommen sei, fehle die Diskussion über die Gestaltung der Arbeitsprozesse, findet Pfaff. Um einem «Burnout» vorzubeugen, empfiehlt er ein Hobby. ­«Eine kultivierte Selbstfürsorge, soziale Kontakte und Erfüllung in der beruflichen Tätigkeit sorgen dafür, dass aus der Seele neue Zweige wach­sen können», so Michael Pfaff, «wir aber halten uns stets im gleichen Blumentopf.» 

Mehr Prävention am Arbeitsplatz nötig

Mehr Prävention am Arbeitsplatz nötig

Der Job-Stress-Index bildet das Ver­hält­nis von Arbeitsbelastungen und Arbeitsressourcen ab. Demzufolge hat die Arbeitsbelastung in den letzten zwei Jahren im Vergleich zu den -ressourcen leicht zugenommen. Beinahe ein Drittel der Erwerbstätigen (28,7 Prozent) ist emotional erschöpft. Das ökonomische Potenzial beträgt 7,63 Milliarden Franken. Das heisst, so hoch wäre der Mehrwert, wenn alle Personen, die unter zu hoher Belastung leiden, durch Massnahmen des betrieb­lichen Gesundheitsmanagements (ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, Mitarbeitergespräche etc.)Ressourcen und Belastungen ausbalancieren könnten. Die «Arbeitsintensivierung», die Zunahme der geleisteten Anstrengung am Arbeitsplatz über die Zeit, wird zu einer Belastung. Junge Erwerbs­tätige zwischen 16 und 24 Jahren leiden am meisten darunter.