Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) beschreibt das «Burnout» als Prozess- und Risikozustand, bei dem es durch anhaltend erlebten Stress zu Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Magengeschwüren kommen kann. Michael Pfaff, der ärztliche Direktor und Chefarzt der Clinica Holistica Engiadina in Susch, sagt: «Investiert ein Mensch dauerhaft mehr Energie, als er zurückbekommt, brennt er aus.» Die moderne Arbeitswelt begünstigt diesen Prozess. Seit der Industrialisierung seien die gesundheitlichen Folgen einer veränderten Arbeitswelt, die natürliche Rhythmen ignoriere, bekannt, wie Pfaff resümiert. Die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz bilanziert im Job-Stress-Index 2020, dass 29,6 Prozent der Erwerbstätigen am Arbeitsplatz einer Belastung ausgesetzt sind, die ihre Ressourcen übersteigt.
Sinne schärfen
Um die persönlichen Ressourcen zu stärken, steht in Susch die Selbstwahrnehmung im Fokus. Neben Gesprächs-, Sport-, Bewegungstherapie und Entspannung gehört auch die Gestaltungstherapie als ein Bereich der Kunsttherapie zum Behandlungskonzept. Joanne Weder schafft als Gestaltungstherapeutin einen Raum, indem sich die Patienten individuell ausdrücken können. «Sich ohne Erwartungs- und Leistungsdruck einem kreativen Prozess hinzugeben, fällt vielen Menschen anfangs schwer», so Weder. Über die Sinnesebene finden die Patienten wieder einen Zugang zu sich und ihren Bedürfnissen, die zu lange zu kurz kamen. Weder sieht in der Gefühlsfeindlichkeit unserer Gesellschaft eine Wurzel von «Burnout» und Depressionen.«Ungelebte Gefühle wie Trauer nähren Depressionen. Der Organismus denkt langfristig», sagt Weder, «ungelöste Konflikte und Traumata, Lebensweisen, die sich gegen das Herz richten, führen früher oder später zu Problemen.»
Grenzen kennen
Bei einem Klinikaufenthalt geht es um mehr als um Symptombekämpfung. «Die Selbstfürsorge lernen die Patienten nicht als Anwendung von Zehn-Punkte-Plänen», sagt Pfaff. Heilung bedeutet für ihn, über eine gute innere und äussere Ordnung zu verfügen. Jeder Mensch trägt sowohl einen fürsorglichen wie auch einen bedürftigen Teil in sich. In der spirituellen Haltung spiegelt sich das Wissen um die eigenen Grenzen. «Viele Patienten kommen als im christlichen Sinne Unerlöste in die Klinik. Sie leiden unter dem ständigen Druck, ihr Daseinsrecht beweisen zu müssen», so Pfaff. In Susch gewinnen die Patienten wieder Selbstvertrauen, indem sie sich als Teil der Natur erfahren, und so einer relativierenden und auch Halt gebenden Sphäre ausser sich begegnen. Die transzendente Haltung fliesst nonverbal in die Therapie mit ein, wobei die Therapeuten eine neutrale Position einnehmen. Das Element der Achtsamkeit zieht sich durch alle Aktivitäten hindurch, sei dies in der Körperwahrnehmung oder im Dialog. Der Patient lernt, den Zugang zur eigenen Natur wiederzufinden und in akzeptierendem Kontakt mit sich selbst zu sein.
Gelebte Nächstenliebe
Pfaff verweist auf die persönliche Dimension im christlichen Glauben. Den «Mut zum Selbstsein» findet der Mediziner in der biblischen Botschaft genauso wie in den Schriften des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Die Offenheit in Pfaffs Denken und die Lust an der Formulierung wurzeln in seinem Theologiestudium in Tübingen und Berlin. Das Medizinstudium folgte erst später. Was ihn antreibt, ist die gelebte Nächstenliebe. Es beschäftigt ihn, dass in der Diskussion um die Corona-Krise jeder Mensch zur potenziellen Bedrohung fürs Gegenüber stilisiert wird. «Die fehlende Diskussion über die menschlichen Bedürfnisse, die in den weltweit von China übernommenen Massnahmen auf der Strecke bleiben, stimmt mich nachdenklich.» Homeoffice und flexible Arbeitszeiten würden neben den existenziellen Ängsten zu weiteren Belastungsfaktoren. Obwohl die Industrie mit einem blauen Auge davon gekommen sei, fehle die Diskussion über die Gestaltung der Arbeitsprozesse, findet Pfaff. Um einem «Burnout» vorzubeugen, empfiehlt er ein Hobby. «Eine kultivierte Selbstfürsorge, soziale Kontakte und Erfüllung in der beruflichen Tätigkeit sorgen dafür, dass aus der Seele neue Zweige wachsen können», so Michael Pfaff, «wir aber halten uns stets im gleichen Blumentopf.»