Recherche 08. November 2021, von Daniel J. Schüz

Der Stillstand bewegt

Uhr

Die defekte Uhr am Küsnachter Kirchturm und eine spontane Idee von Pfarrer Andrea Marco Bianca erhitzen die Gemüter. Und dann geben Mechaniker der Aktion zusätzliche Brisanz.

Die Küsnachter Kirchturmuhr ist seit Wochen ein ärgerliches Thema. Und daran wird sich so bald auch nichts ändern.

Mitte September setzt Andrea Marco Bianca (60), Pfarrer in Küsnacht und Kirchenrat des Kantons Zürich, den Gemeindekonvent von einer E-Mail in Kenntnis, das er am Vorabend von der «Konkurrenz» erhalten hat. «Könnte es sein, dass mit eurer Kirchturmuhr etwas nicht stimmt», schrieb Matthias Westermann, Diakon beim katholischen Pfarramt. «Sie hat 20 Minuten Verspätung!»

Kleine Rituale mit grosser Wirkung

Einmal im Monat tagt der Konvent. Ob die Teilnehmer – Pfarrleute, Sigristen und weitere Mitarbeitende der reformierten Kirchgemeinde – ahnen, worauf der Pfarrer Bianca hinauswill? Sie kennen sein Talent, die Menschen für augenfällige Symbolik zu sensibilisieren, und sie wissen um seine Fähigkeit, mit kleinen Ritualen grosse Wirkung zu erzielen.

Die Uhr mit ihren goldenen Ziffern auf blauem Grund kommt ihm da gerade recht: Man muss zu ihr aufblicken, wenn man mit der Zeit gehen will; seit Menschengedenken zählt sie oben die Stunden, und unten macht sie den Pendlern Beine, damit die den Zug nicht verpassen.

Gründliche Revision nötig

Aber jetzt will sie nicht mehr gehen, sie hat ein Timeout genommen – ausgerechnet sie, die Uhr am Turm der reformierten Kirche, steht still. Das gibt zu denken.

Und zu reden. Die Kirchgemeindeverwalterin hat den öffentlichen Zeitmesser ganz oben auf die Traktandenliste gesetzt. Denn nach dieser Uhr richten sich viele Menschen in Küsnacht, hat doch der katholische Kirchturm keine Uhr. «Sie muss revidiert werden», stellt sie fest, «und zwar gründlich».

Das ist für Pfarrer Bianca die Gelegenheit, ein Zeichen zu setzen: «Ich möchte veranlassen, dass die Zeiger nicht – wie in solchen Fällen üblich – auf die oberste Ziffer gerichtet werden, auf die Zwölf; sie sollen 11:55 Uhr anzeigen: Fünf vor zwölf.» Und so kommt es, dass die Uhrzeiger kein senkrechtes Ausrufezeichen formen, sondern zu Mahnfingern mutieren.

Die Zeit ist Interpretationssache

Das wiederum gibt zu schreiben. Zunächst in den sozialen Medien: Kommentare und Likes werden gepostet, Bilder online gestellt. Und bald schon bleiben die Menschen auch auf der Strasse stehen und wundern sich, warum die stehen gebliebene Uhr eine so symbolträchtige Zeit anzeigt.

«Das kann doch kein Zufall sein!» «Was will diese Uhr uns wohl sagen?» «Dass es fünf vor zwölf ist – vor allem für unsere Umwelt: Die Uhr ermahnt die Politiker, sie müssen am Klimagipfel in Glasgow den Worten Taten folgen lassen.» «Es ist fünf vor zwölf für uns alle: Die Uhr sagt uns, dass wir dieses Virus ernst nehmen und an der Wahlurne das Covid-19-Gesetz annehmen müssen.» «Immerhin zeigt auch diese Uhr die korrekte Zeit an – auf jeden Fall zweimal täglich!» «Quatsch! Seht ihr denn nicht, dass das hier die einzige Uhr ist, die dauerhaft deutlich macht, was Sache ist – gerade weil sie sich nicht mehr bewegt?» «Also, ich finde, die Kirche soll sich nicht in die Politik einmischen!»

Nur Denkanstösse

Ein spannendes Argument, findet Pfarrer Bianca, es erinnert ihn an die Abstimmungsdebatte, die vor ziemlich genau einem Jahr die Gemüter in Wallung brachte: «Damals ging es um die Konzernverantwortungsinitiative: Von einigen Gotteshäusern flatterten Fahnen, die für ein Ja-Votum warben. Da hat die Kirche tatsächlich und deutlich eine politische Position bezogen. Aber heute ist dieses Fünf-vor-zwölf dort oben nur dann politisch, wenn man es so sehen will. Die Uhr gibt uns einfach nur Denkanstösse!»

Kirchenrat für Energiegesetz

Der Kirchenrat reformierten Landeskirche des Kantons Zürich befürwortet in einer Stellungnahme das Energiegesetz, über das am 28. November abgestimmt wird. Mit ihrem Immobilienbesitz stünden Landeskirche und Kirchgemeinden in einer besonderen Verantwortung, auf ökologische Heizsysteme umzustellen. Zudem verpflichte die Kirchenordnung «zum Eintreten für die Bewahrung der Schöpfung», begründet der Kirchenrat seine Zustimmung.

Bianca denkt weiter, und er sagt, was er denkt: «Die Kirche – und das sehen wir auch an diesen Uhrzeigern – hat eine Doppelfunktion: Sie wendet sich einerseits an die ganze Bevölkerung, und da darf sie dem gesellschaftlichen Diskurs nicht ausweichen. Aber sie sorgt sich auch individuell um die Lebensweise eines jeden einzelnen Menschen. So gesehen haben die Zeiger dieser Uhr auch eine sehr persönliche ermahnende oder auch tröstliche Bedeutung. Das Besondere daran: Man muss nicht einmal hineingehen in die Kirche und einem Pfarrer beim Predigen zuhören; die Botschaft erreicht alle, die von aussen auf die Kirche schauen.»

Dramatisierende Mechaniker

Und dann bewegt sie sich doch noch: Wenige Tage nachdem Andrea Bianca das Uhrwerk-Thema am Gemeindekonvent zur Sprache und die neue Zeit auf den Weg gebracht hat, zeigt die auf Fünf-vor-zwölf eingestellte Uhr zuerst Drei-vor-zwölf und dann plötzlich Ein-vor-zwölf. Es sei allerdings keine Geisterhand gewesen, die den grossen Zeiger vorangeschoben habe, erklärt Pfarrer Bianca, es seien Mechaniker gewesen, die beim Ausbau des Uhrwerks die Zeiger aus Versehen leicht verschoben und so die Symbolik der Uhrzeit zusätzlich dramatisiert haben.

«Zunächst war ich irritiert, die schöne Symbolik war weg», sagt Andrea Bianca schmunzelnd. «Aber inzwischen habe ich erkannt, dass es schon passt: Die Zeit schreitet voran; es kann nicht bei der Fünf-vor-zwölf-Position bleiben. Es darf bloss für unsere dringlichen Fragen jenseits des Kirchturms nicht Zwölf und damit definitiv zu spät werden.»

Die andere Zeitmessung

Spätestens Mitte Dezember, wenn der Uhren-Stillstand den Küsnachtern drei Monate lang zu denken gegeben haben wird, sollte das Uhrwerk revidiert sein. Dann wird die Zeit bis zur frohen Botschaft wieder auf dem Adventskalender gemessen – nicht in Minuten bis Zwölf, sondern in Tagen bis Weihnachten.