Die Hygienemaske ist zum Alltagsaccessoire geworden. Erinnern Sie sich noch daran, als Sie sich das erste Mal eine aufgesetzt haben?
Tilman Allert: Ja, der Anfang war amüsant. Meine Frau holte ihre Nähmaschine heraus und fertigte für die Familie Hygienemasken an. Diese setzten wir auf, dann filmten wir gegenseitig, wie sich die Masken beim Atmen aufblähen, das wirkte ziemlich komisch. Und Freunde schickten Fotos von sich und ihren Masken herum. Dergleichen geschieht aufgrund des anderen Aspekts der Maske, der Verkleidung.
Nur haben wir keine Fasnacht.
Auch in diesem Jahr nicht. Die Deutung, dass wir es mit einer grossen Gefahr zu tun haben, hat uns überzeugt, und wir halten uns an die Regeln. Wir sind sehr fügsam.
Ist die Leichtigkeit mittlerweile verloren gegangen?
Eher nicht. Natürlich machen wir keine Clownerien im Supermarkt, aber wir und auch unser Freundeskreis lässt sich immer wieder mal merkwürdige Dinge einfallen. Das entlastet seelisch. Das Maskentragen ist eine Zumutung für alle Menschen. Diese Belastung irgendwie zu kompensieren, scheint mir wichtig, und Humor ist dafür nicht das schlechteste Mittel.
Warum ist die Maske eigentlich eine Zumutung und bewegt die Gemüter so sehr?
Die Antwort ist einfach: Sie ist eine Antlitz-Verkleidung. Das offene Gesicht ist ein Einstieg in die Kommunikation, ein erster Gruss, noch bevor wir mit dem Sprechen beginnen. Die Maske ist eine Verkleidung, mit der ich ein Misstrauen inszeniere. Und die Maske ist eine Provokation, ich signalisiere: Achtung, ich zeige dir nicht vollständig, wer ich bin. Unter der Maske bleiben wir einander fremd.
Eine düstere Einschätzung.
Nicht ganz. Auch ohne Maske gilt, was vor mehr als 100 Jahren der Soziologe Georg Simmel so treffend formuliert hat: Der Mensch ist dem anderen ein Geheimnis. Stets haben wir es mit einer Geheimnishaftigkeit unseres Gegenübers zu tun. Mit Kommunikation versuchen wir, dem Geheimnis des Gegenübers auf die Spur zu kommen, das macht sie interessant und vor allem dynamisch. Nun die Maske: Sie akzentuiert die Geheimnishaftigkeit, die Fremdheit. Sie verhindert Mimik, und der Fremde wird zur Provokation, zu einer kommunikativen Zumutung. Das kann zu mitunter tragischen Situationen des Nichtverstehens führen.
Zum Beispiel?
Sehr beeindruckt hat mich die Geschichte einer Krankenschwester aus Bergamo. Sie berichtete, wie sie durch die Schutzkleidung einen Sterbenden nicht mit ihrem Lächeln verabschieden konnte. Eine solche Geschichte lässt einen nicht leicht los. Ohne die Komplexität der Mimik ist der menschliche Blick ambivalent. Er beinhaltet ein Starren und eine Offenheit zugleich.
Könnte der Blick infolge der Maske nicht wichtiger werden?
Obwohl bei der Kommunikation mit Maske die Augen ins Zentrum rücken, können wir mit ihnen die fehlende Mimik nicht ersetzen. Gestik und Mimik unterstreichen das Gesagte – ersetzen es nicht.
In den USA gibt es «Smizing»-Seminare, in denen man lernt, mit den Augen zu sprechen oder zu lächeln.
Ein Seminar zum Lächeln mit den Augen, abstrus! Da wird die Komplexität der Kommunikation heillos instrumentalisiert. Ich glaube nicht, dass dergleichen überzeugt. Aber wenn Menschen für so etwas Geld ausgeben wollen – es gibt ja schliesslich auch Flirtseminare.
Apropos Flirt: Frisch Verliebte können sich stundenlang in die Augen schauen, ohne ein Wort zu sprechen.
Ja, das stimmt. Der Flirt spielt mit den Augen. Sie vermitteln dem anderen: Aus uns könnte etwas werden. Mit der Sprache jedoch bleibe ich auf einer distanzierteren Ebene. Der Flirt ist eine Kommunikation des andauernden Ja und Nein, das macht ihn auch so spannend – noch spannender, wenn beide dies tun.
Wie beeinflusst die Maske den Flirt?
Der Flirt wird, wie alles andere mit Maske auch, schwieriger. Aber nicht unmöglich.