Wie gefällt Ihnen Davos?
Michael Blume: Ich habe meine Grossmutter, die in der Schweiz lebte, oft besucht, aber ich bin nun zum ersten Mal hier, obwohl ich längst einmal herkommen wollte. In der Welt von Verschwörungsgläubigen spielt Davos nämlich eine riesige Rolle.
Inwiefern?
Sehr viele Verschwörungsgläubige erachten das jährlich stattfindende World Economic Forum in Davos als Zentrum der jüdisch bestimmten Weltverschwörung.
Warum wird das Judentum mit Verschwörungsmythen in Zusammenhang gebracht?
0,2 Prozent der Weltbevölkerung sind jüdisch. 20 Prozent aller Nobelpreise, die bisher verliehen worden sind, gingen an jüdische Menschen. In der Vorstellungswelt der Verschwörungsgläubigen traut man deshalb eine Verschwörung gegen die Menschheit nur dieser Gruppe von Menschen zu. Wenn sich dann noch, wie etwa hier in der reichen Schweiz, Wohlstand und der Besuch von zahlreichen jüdisch-orthodoxen Menschen vermengt, so passt das dann perfekt in die Vorstellungswelt der Verschwörungsgläubigen. Die Judenfeindlichkeit hat aber ein Spezifikum.
Nämlich?
Es gibt verschiedene Formen von feindseligem Dualismus: Ein Rassist wird immer behaupten, er stehe über den anderen. Eine Antiziganistin wird behaupten, sie sei Roma und Sinti überlegen. Aber ein Antisemit, eine Antisemitin fantasiert sich die Überlegenheit zusammen. Ich bin mit einer Muslimin verheiratet und hab in all den Jahren noch nie erlebt, dass eine Person gesagt hat, es gäbe eine Weltverschwörung der Muslime. Wenn Sie mich zwingen würden, die Judenfeindlichkeit mit einem Begriff zu formulieren, dann hiesse der Bildungsneid.
Bildungsneid ist also die Wurzel des Antisemitismus?
Genau. Als sich im 19. Jahrhundert die Universitäten öffneten und sehr viele dieser bildungsorientierten jungen Leute überall in Europa an die Universitäten kamen, führte dies zu einer Explosion von Neid und Zuschreibung. Ich habe bis heute mit Menschen zu tun, die die Relativitätstheorie von Albert Einstein ablehnen, nur weil er Jude war.
Welchen Wert hat denn Bildung im Judentum?
Im Ersten Buch Mose heisst es: Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen. Die Gelehrten Moses Maimonides und Meister Eckhardt haben daraus den Begriff Bildung in die deutsche Sprache gebracht. Sem, einer der Söhne Noahs, kommt auch im Begriff Antisemitismus vor. In jüdischer Überlieferung ist Sem der erste Gründer einer Schule. Das Judentum war die erste Religion, die mit der Alphabetisierung angefangen hat. In einer Thorarolle stehen 304 805 handgeschriebene Alphabetbuchstaben. Daraus entstanden die Bibel und der Koran. Wir müssen uns dieser Wurzeln bewusst sein. So können wir besser kommunizieren und Friedensstifter sein.
Die Bereitschaft zum Dialog braucht es beiderseits. Jüdische Gemeinschaften zeigen aber wenig Interesse an den anderen Religionen.
Das Judentum in Europa hat über Jahrhunderte furchtbare Erfahrungen gemacht. Es stimmt, dass jüdische Personen, die den Dialog mit den Kirchen suchen, es nicht einfach haben. Auch im Islam mache ich diese Erfahrung. Aber es ist uns nie versprochen worden, dass es einfach sein wird. Im Gegenteil, wir sollten dann Brücken bauen, wenn es schwierig wird.
In Davos gab es mehrere negative Vorfälle zwischen jüdischen Gästen und Ortsansässigen. Was raten Sie als Antisemitismusbeauftragter der Gemeinde?
Davos braucht keine Belehrungen. Es spricht für den Ort, dass es hier ein Interesse gibt von Personen, die sich um Verständigung und Vermittlung bemühen. Das wunderbare Begegnungsprojekt mit dem Namen Likrat hat uns in Deutschland inspiriert. Einige Gemeinden führten dasselbe mit dem Namen «Meet a jew» ein. Mein Wunsch wäre eine Kollegin oder ein Kollege als Beauftragte gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben in der Schweiz.
Was zieht Tausende jüdischer Gäste jährlich nach Davos oder Arosa?
Die Alpen sind für das ultraorthodoxe Judentum sehr wichtig. Es gibt die Tradition, dass Reisende einmal im Leben die Alpen sehen müssen. Sie beruht auf einer Predigt des Begründers der Neo-Orthodoxie, Samson Raphael Hirsch. Er soll gesagt haben: «Wenn ich dann vor Gott stehe, dann wird er mich fragen: ‹Hast du meine Alpen gesehen?›». Für viele der ultraorthodoxen Juden, die aus Israel, Kanada, Nordamerika anreisen und daheim in abgeschotteten Gemeinden mit vielen Kindern leben, ist Davos das Tor zur Welt.
Wenn solche Welten aufeinanderprallen, kommt es zu Missverständnissen.
Richtig. Ich bin Davos dankbar dafür, dass Prozesse der Verständigung hier beginnen können. Wenn es gut läuft, darauf hoffe ich, dann wird nach dem Ansatz «Hast du meine Alpen gesehen?» eine Kultur entstehen, wo orthodoxe Jüdinnen oder Juden denselben Respekt auch den Menschen, die in den Alpen leben, zeigen. Umgekehrt werden die Schweizerinnen und Schweizer vermutlich verstehen, was ihre Heimat dieser Gästegruppe bedeutet. Dann wäre das tatsächlich ein Dienst an den Religionen und an der Menschheit.