Eine Armee für die religiöse Rechte

USA

Beobachter sehen Charlie Kirks «Turning Point» als einflussreichste Kraft evangelikaler Nationalisten. Witwe Erika Kirk übernimmt eine Organisation, die nun ein Selbstläufer ist.

Zehntausende Menschen in einem Footballstadion und Redner wie der amerikanische Präsident Donald Trump und sein Vize James David Vance: Wer den rechtskonservativen Aktivisten Charlie Kirk vor allem mit streitbaren Debatten vor Studenten in Verbindung brachte, wurde bei seiner Gedenkfeier Ende September eines anderen belehrt. Die Veranstaltung demonstrierte vor allem die immense Macht des Ermordeten und seiner Bewegung. 


«Turning Point ist vermutlich die einflussreichste Organisation der religiösen Rechten im Land», sagt Matthew D. Taylor vom Institute for Islamic, Christian, and Jewish Studies in Baltimore. Dabei stand das Christentum für Kirk zunächst nicht im Fokus. Zwar machte der 31-Jährige aus seinem evangelikalen Glauben keinen Hehl, doch nach der Gründung 2012 machte sich seine Bewegung in erster Linie für freie Märkte und den Kapitalismus stark. 

Neue Zielgruppen

Dass sie sich in den letzten fünf Jahren in eine christlich-nationalistische Organisation wandelte, die eine Trennung von Kirche und Staat ablehnt, führt Matthew Boedy, Professor für Anglistik an der University of North Georgia, unter anderem auf Kirks Pastor Rob McCoy zurück. McCoy, der auch an der Gedenkfeier auftrat, habe erkannt, wie gut Kirk zum Vermittler zwischen der Trump-Administration und den Evangelikalen tauge, und ihn von einer Kursänderung überzeugt, sagte Boedy, der Turning Point schon seit Jahren genau beobachtet, im Gespräch mit «reformiert.».


Kirk wiederum habe für sich die Chance gesehen, neue Zielgruppen zu erreichen. Hinzu kam die Corona-Pandemie: «Die Universitäten waren geschlossen, also ging er mit den Veranstaltungen in die offen gebliebenen Kirchen.»

Christen an die Macht

Beobachter sind sich darin einig, dass Kirk der herrschaftstheologischen Ideologie «Seven Mountains Mandate» nahestand. Sie hat Bereiche definiert, in denen  Christen eine Führungsrolle beanspruchen sollen: Regierung, Religion, Medien, Wirtschaft, Familie, Bildung und Unterhaltung. 


Kirk habe die radikale Ideologie nicht explizit angesprochen, sagt Boedy, der jüngst das Buch «The Seven Mountains Mandate» veröffentlicht hat. Wahrscheinlich auch, um ein gemässigteres Publikum nicht zu verprellen. Turning Point selbst engagiert sich jedoch praktisch in allen der sieben Bereiche und mischt im Kulturkampf, der derzeit in den USA tobt, kräftig mit: Die Organisation hat eine politische und eine religiöse Unterorganisation und ist in der Bildungspolitik aktiv. 

Der Präsidentenmacher

In Schulen und Universitäten führen Aktivisten mittlerweile landesweit 3500 Ortsgruppen. Kirk verbreitete in den sozialen Medien und seiner täglichen Radioshow oft homophobe und islamfeindliche Ansichten, sprach sich gegen Abtreibungen aus und für die traditionelle Rollenverteilung in der Familie. International strebte er auch nach Einfluss, mit Turning-Point-Ablegern in Grossbritannien und Australien. Tage vor seinem Tod trat er in Südkorea auf. Eine Veranstaltung der dortigen Konferenz: «Wie Christen die Welt anführen können». 

Als Gradmesser für den politischen Einfluss von Turning Point gilt der Sieg Trumps bei den letzten Wahlen. Die Organisation mobilisierte in grossem Stil junge Wähler. Auch Vizepräsident Vance verdankt seine Position Kirk, der Aktivist ebnete ihm den Weg ins Umfeld Trumps. «Kirk war die einflussreichste Person ausserhalb des Weissen Hauses», sagt Boedy. Die als non-profit klassierte und steuerbefreite Organisation verfüge über ein 100-Millionen-Dollar-Budget. Boedy erwartet nicht, dass Turning Point nun an Einfluss verliert. Im Gegenteil: «Kirk hat die Organisation so aufgebaut, dass sie bleiben wird.» 

Turning Point braucht ein neues Gesicht, aber Charlie Kirk kann und muss nicht ersetzt werden.
Matthew Boedy, University of North Georgia

Die Organisation selbst verkündete, dass sich seit dem Attentat auf Kirk 60 000 Personen wegen der Gründung lokaler Ableger gemeldet hätten. Zudem entfachte die Ermordung einen Hype in den sozialen Medien: Viele Nutzer bekannten sich zu erstmaligen Kirchenbesuchen. 


Die Organisation passte ihr Merchandising an und verkauft nun T-Shirts mit dem Aufdruck «We are all Charlie Kirk» und «Martyr»-Hoodies. Die Stilisierung zum Märtyrer beobachtet Religionsforscher Taylor in verschiedenen Kreisen. Während einige Evangelikale Kirk in eine Reihe mit dem ersten christlichen Märtyrer Stephanus stellten, sei er für andere ein Märtyrer der MAGA-Bewegung oder der freien Rede. Die ersten Weichen für die Zukunft der Organisation sind gestellt: Witwe Erika Kirk übernimmt. Sie ist eine christliche Unternehmerin und Ex-Miss-Arizona mit Universitätsabschlüssen in Jura und Politikwissenschaft. Auch promoviert sie in Bibelwissenschaft. 

Vergebung und Vergeltung

Ob Erika Kirk die Lücke, welche ihr Mann hinterlässt, ausfüllen wird, ist dabei nicht entscheidend. Turning Point brauche zwar ein neues Gesicht, sagt Boedy. «Aber Charlie Kirk kann und muss nicht ersetzt werden.» Die Organisation verfüge über Millionen Anhänger. «Sie werden nun zu ihrer Armee werden.» 


Erika Kirk schlug an der Gedenkfeier versöhnliche Töne an. Sie betonte, dass nach dem Attentat vom 10. September Gewalt ausgeblieben sei. «Stattdessen sehen wir Erweckung.» Unter Tränen vergab sie Tyler Robinson, dem mutmasslichen Mörder ihres Mannes, und begründete dies mit der Feindesliebe, die Charlie Kirk selbst gelebt habe. Anders tönte der Redner nach ihr: Präsident Trump proklamierte, seine Feinde zu hassen. 

Widersprüchliche Haltung

Taylor sieht in den beiden Positionen einen Widerspruch, dem sich die Christen in der MAGA-Bewegung mit der Unterstützung für Trump generell aussetzten. Viele propagierten für sich die Feindesliebe. «Zugleich wollen sie von Gott eingesetzte Herrscher, die ihr Schwert gegen das Böse und somit gegen die Feinde erheben.» 


So lässt sich wohl auch das Ausbleiben von Gewalt erklären. Anders als beim Sturm aufs Kapitol 2021 sind jetzt die Konservativen am Ruder. «Sie nutzen ihre Macht in Washington für Vergeltung», fürchtet Boedy. Auswirkungen sieht er bereits im Bildungsbereich: Mehrere Professoren wurden wegen Posts in den sozialen Medien über Kirks Ermordung entlassen. Die Polarisierung und damit die politische Gewalt würden weiter zunehmen, sagt Matthew Boedy.

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