Wo vor allem Kirchen den Armen helfen

USA

Der Berner Pfarrer Martin Ferrazzini erlebte die Staaten in starken Gegensätzen. In seinen Schweizer Alltag mitnehmen will er die Herzlichkeit gegenüber anderen Menschen.

Anderthalb Jahre lebte Martin Ferrazzini mit seiner Familie in den USA, bis am vergangenen 1. August. Die Erlebnisse fasst der Pfarrer im Gespräch so zusammen: «Es war alles in allem extrem faszinierend und auch etwas abstossend – in der sozialen Gnadenlosigkeit. Aber ich vermisse die Kontakte, wir werden sicher wieder hingehen.»

Der Berner Pfarrer wohnte in Silver Spring, Maryland – ein Stück nördlich von Washington D. C. «Wir suchten für die anderthalb Jahre eine ame­rikanische Kirche, die auch etwas für Kinder bietet», sagt er. Ganz in der Nähe fanden sie die «Colesville United Methodist Church». Beim ersten Besuch sei die Familie sehr freundlich begrüsst worden. «Das ist bestimmt ernst gemeint, aber auch Verkaufsstrategie», vermutet Martin Ferrazzini.

Berührender Empfang

Doch etwas später konnte seine Familie gar nicht anders, als zu Tränen gerührt zu sein. Während des Gottesdienstes stellten sie und andere sich als Neuanwesende und Gäste vor. «Und dann standen alle in der Kirche auf, wandten sich uns zu und sangen ein Willkommenslied – das war unglaublich berührend», sagt Ferrazzini. So hätten sie sich von Anfang an sehr wohl gefühlt in dieser ältesten Kirche des Bezirks Montgomery – als Teil einer kleinen Minderheit bezüglich Hautfarbe, denn die grosse Mehrheit dieser Kirche seien Schwarze.

Der Berner Pfarrer hatte eher eine konservative Ausrichtung erwartet. Vielerorts sei es tatsächlich so. «Aber ich war überrascht vom Pastor. Homo­sexualität etwa war kein Problem. Seine Predigten waren sehr mitnehmend und auch historisch-
kritisch fundiert.» Nach den Gottesdiensten gebe es oft Essen, ganze Menüs und diverse weitere Angebote. «Das ist ein wichtiger Teil; die wenigsten gehen sofort wieder», sagt Ferraz­zini. «Das möchte ich bei uns mehr pflegen.»

Intensives Gemeindeleben

Ein weiterer Unterschied zu den hiesigen Landeskirchen ist in den USA, dass es keine Landeskirchen gibt. Mitglieder spenden ihren Kirchen direkt Geld – weil sie gern dabei seien, sagt Martin Ferrazzini. Und das seien oft deutlich höhere Beiträge, als in der Schweiz über die Kirchensteuern gezahlt werden. Allgemein sei das Kirchgemeindeleben aktiver, jedenfalls habe er es so erlebt.

Die Möglichkeiten für die Gemeindemitglieder der United Methodist Church reichen vom Chor über Basare, Schmuckmachgruppen, Gebetsgruppen, Bibelstudiengruppen, Männergruppen, Jugendangeboten bis hin zu sozialen Projekten. Für Bedürftige etwa werde laufend Essen gesammelt, sagt Ferrazzini: «Es hatte immer Kisten im Eingang der Kirche, in die gut haltbare Lebensmittel gelegt wurden.»

Ein Grund für dieses Engagement sei, dass der Staat im Bereich der Fürsorge viel weniger übernehme. «Gerade mit Corona wurde das System demaskiert: Armut ist viel sichtbarer geworden – und es gibt viele, die arm dran sind», sagt der Pfarrer. In seinen Augen ist das ein Grund dafür, dass die Kirchen auch politischer agieren als in der Schweiz. Der Pastor seiner Kirche habe oft politisch Position bezogen, besonders nach dem Tod von George Floyd. «Das passiert aber verstreut, oft mit Anspielungen, auch Bibelstellen.» Und auch wenn selten Namen fielen, war klar, dass man auf Veränderungen hofft.

Martin Ferrazzini, 36

Der reformierte Berner Pfarrer lebte mit seiner Frau und ihren gemeinsamen vier Kindern von Februar 2019 bis Anfang August 2020 in den USA. Er untersuchte dort auf privater Basis die Vielfalt der Kirchen im nahen Umfeld. Ferrazzini ist seit seiner Rückkehr wieder als Pfarrer tätig, teilzeit in der Stadt Bern und in Aarwangen. 

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