Abtreibungsfrage könnte die Wahlen entscheiden

Politik

Kamala Harris will das Abtreibungsrecht liberalisieren. Welche Konsequenzen ein striktes Verbot hat, zeigt sich in Texas. Dort hilft eine unitarische Gemeinde betroffenen Frauen.

Erst spricht sie über Zuwanderung, Inflation, Waffenbesitz. Ihr Versprechen, das Abtreibungsrecht wieder zu liberalisieren, hat sich die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris für den Schluss ihrer Rede aufgehoben und erntet dafür tosenden Applaus: «Wir, die wir an reproduktive Freiheit glauben, werden Donald Trumps extreme Abtreibungsverbote stoppen.»

Im März hatte Harris als erste Person im  Amt der US-Vizepräsidentin eine Abtreibungsklinik besucht. Gleich an ihrer ersten Wahlkampfveranstaltung Ende Juli in Atlanta setzte sie das Thema hoch auf ihre Agenda. Es könnte ihr zum Sieg verhelfen, die Mehrheit der Bevölkerung weiss sie hinter sich: 63 Prozent der Amerikaner sind der Ansicht, Abtreibungen sollten in allen oder den meisten Fällen erlaubt sein, wie Erhebungen des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Centers zeigen. 

Krise im Gesundheitswesen

Dass die Realität in vielen Bundesstaaten anders ist, hat das Land Harris` republikanischen Rivalen und Ex-Präsident Donald Trump zu verdanken. In seiner Amtszeit stellte er mit der Ernennung konservativer Richter die Weichen dafür, dass der Supreme Court 2022 das landesweite Recht auf Abtreibung kippte. Trump beschenkte eines seiner treuesten Klientel: Konservative Christen, die seit Jahrzehnten gegen Abtreibungen kämpfen, weil sie die Empfängnis als Beginn menschlichen Lebens erachten. 

Im Bundesstaat Texas wird deutlich, was ein striktes Abtreibungsverbot bedeutet – für Frauen, Ärzte und Seelsorgende wie die Unitarier-Pfarrpersonen Daniel Kanter und Beth Dana. «Wir haben eine Krise im Gesundheitswesen», sagt Kanter beim Gespräch Mitte Juli in seinem Büro der «First Unitarian Church of Dallas». Frauen, die eine Schwangerschaft beenden wollten, müssten in andere Bundesstaaten reisen.

Wem das Geld dazu fehle, sei gezwungen, ein Kind auszutragen, ohne für es sorgen zu können. Im frühen Stadium behelfen sich viele Frauen mit Abtreibungspillen, die sie über das Internet bestellen. «Der grösste Anbieter von Abtreibungen ist wohl die Post», sagt Kanter. Und auch die Säuglingssterblichkeit ist in Texas im Jahr nach der Einführung des Verbots um 13 Prozent gestiegen. Vor  allem weil Frauen schwer kranke Kinder gebären müssen - selbst wenn diese keine Überlebenschancen haben. 

Jahrzehntelanges Engagement

Das Thema beschäftigt die «First Unitarian Church of Dallas», eine Kirche der Unitarischen Universalisten, seit Jahrzehnten. Die religiöse Gemeinschaft hat ihre Wurzeln im Protestantismus, ihre Mitglieder sind mittlerweile jedoch in unterschiedlichen Religionen beheimatet.  Gemeinsam ist ihnen eine liberale, humanistische Weltsicht, in der die tätige Nächstenliebe eine grosse Rolle spielt. 

Die Gemeinde in Dallas engagierte sich in den 60er Jahren im Clergy Consulting Service, einer interreligiösen Vereinigung, die Frauen zu sicheren Abtreibungen verhalf - unter anderem auf Schiffen in internationalen Gewässern. Illegale Eingriffe, seien damals gefährlich gewesen, Frauen auch dabei ums Leben gekommen, sagt Kanter. Er zeigt durchs Fenster auf ein anderes Gebäude des grosszügigen Komplexes, in dessen Mitte sich ein begrünter Innenhof mit einem Kinderspielplatz befindet. «Und der Fall «Roe gegen Wade» nahm seine Anfänge in diesem Raum dahinten.» 

Die Klage einer Schwangeren gegen den texanischen Bezirksanwalt hatte 1973 den Amerikanerinnen landesweit das Recht auf Abtreibung verschafft. Eine engagierte Frauengruppe innerhalb der Gemeinde hatte diese Klage unterstützt. Die Unitarierinnen trafen sich mit einer der Anwältinnen der Klägerin und  reichten eine juristische Argumentation für die Legalisierung ein. Nach dem Grundsatzurteil waren Schwangerschaftsabbrüche in Texas bis zur 22. Woche  erlaubt. 

Kanter und Dana arbeiteten bis vor zwei Jahren als Seelsorgende in einer Abtreibungsklinik in Dallas. Ärzte nahmen dort 100 Abbrüche täglich vor. «Es kamen 13-jährige Mädchen, 16-Jährige Teenager, Frauen in den 40ern die schon drei Kinder hatten und nicht für ein weiteres sorgen konnten», erzählt Kanter. Sein Engagement begründet der Pfarrer damit, dem Beispiel Jesus zu folgen: «Wo Not herrscht, bieten wir Unitarier Hand.» 

Doch nach liberalen Jahrzehnten drehte der Wind. 2021 hebelten die texanischen Gesetzgeber «Roe gegen Wade» mit einem juristischen Kunstgriff aus, der manche daran zweifeln lässt, wie viel eine Präsidentin Harris überhaupt bewirken könnte. Jede Privatperson kann in Texas seitdem Menschen wegen Beihilfe zu illegaler Abtreibung verklagen. Eingriffe wurden verboten, sobald beim Fötus ein Herzschlag vorhanden ist. Das ist etwa ab der sechsten Schwangerschaftswoche, ein Zeitpunkt, zu dem Frauen sich oftmals noch nicht einmal einer Schwangerschaft bewusst sind. 

Ein Klima der Angst

Im Jahr darauf hob schliesslich der Supreme Court in Washington das Grundsatzurteil auf. In Texas wurde weiter verschärft, es herrscht seitdem das strikte Verbot ohne Fristenlösung. Ausnahmen sind nur erlaubt, wenn das Leben der Schwangeren gefährdet ist. Manchen Politikern reicht selbst das nicht aus. Einzelne Bezirke verboten den Frauen für eine Abtreibung über ihre Strassen in den liberalen Nachbarstaat New Mexico zu fahren. Nicht umsetzbar sei das und unvereinbar mit dem Recht auf Bewegungsfreiheit, urteilen die Pfarrpersonen. «Aber es schürt ein Klima der Angst», sagt Dana.  


Seit April trägt das Engagement der Gemeinde einen neuen Namen: Truth Pregnancy Resource Center. Das Beratungszentrum für Schwangere ist im Nebengebäude der Abtreibungsklinik untergebracht, in der Kanter und Dana einst tätig waren und die es mittlerweile nicht mehr gibt. Die Leiterin Deneen Robinson ist Baptisten-Pastorin und führt durch die Räume. «Safe Space» steht in bunten Farben auf einem Wimpel im Eingang. Robinson zeigt einen Ruheraum, ein Zimmer für Ultraschall-Aufnahmen, eines für Gespräche. «Wir informieren Schwangere neutral über alle Optionen - Abtreibung, Adoptionsfreigabe oder das Kind aufziehen», sagt Robinson.

Das Angebot  für Frauen unterhalb der Armutsgrenze ist als Gegengewicht gedacht zu zahlreichen Beratungsstellen hinter denen religiöse Organisationen stehen und in denen den Frauen immer wieder grauenvolle Filme über Abtreibungen gezeigt werden oder gar ein Zusammenhang zwischen dem Eingriff und Brustkrebs behauptet wird, wie Robinson erzählt. 

Wollen ihre Klientinnen eine Abtreibung, vermittelt sie Adressen von Partnerorganisationen in New Mexico, die mit der Organisation der Reise helfen. Das Zentrum selbst kann das nicht leisten - die Gefahr wegen Beihilfe belangt zu werden, ist zu gross. Nach dem Eingriff werden die Frauen von Robinsons Team noch ein Jahr lang seelsorgerlich betreut. Robinson  ist stolz auf die Anlaufstelle. Und fügt dennoch bitter hinzu: «Das Zentrum erinnert daran, dass die Frauen nicht das Recht haben, eigene Entscheidungen zu treffen.» 

Dass das Thema durch Kamala Harris als demokratische Präsidentschaftskandidatin nun landesweit mehr Gewicht im Wahlkampf bekommt, freut die Pastorin. Rasche Veränderungen im konservativen Bundesstaat erwartet sie jedoch nicht. Die lokale Debatte könne dadurch positiv wie negativ beeinflusst werden, schreibt Robinson auf eine Nachfrage per Email, mehrere Wochen nach dem Besuch in Dallas. «Unabhängig davon, wer schlussendlich Präsident oder Präsidentin wird, als Leiterin des Truth Pregnancy Resource Centers bleibe ich hoffnungsvoll.» Robinson ist Ende 50 und hat zwei erwachsene Töchter. Ihr Engagement ist auch persönlich motiviert. Als junge Frau habe sie selbst abtreiben müssen. «Ich will, dass meine Kinder die gleichen Rechte haben, wie einst ich», sagt sie. 

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