Schwerpunkt 28. Oktober 2020, von Christian Fahrenbach, New York

Down by the Riverside – eine liberale Kirche im Fluss

USA

Es sind harte Zeiten. Doch die Riverside Church in Manhattan macht vor, wie virtuelles Gemeindeleben funktioniert. Und sie bleibt bei ihrer klaren politischen Haltung.

Schon seine ersten Worte sind poli­tisch: «Mein Herz ist gebrochen», sagt Reverend Michael Livingston ernst, blickt kurz nach unten auf seine Notizen und dann wieder direkt in die Kamera. «Und ich vermute, auch die Herzen von vielen von Ihnen, die jetzt online diesen Gottesdienst mitverfolgen, sind gebrochen.» Er spricht über die kurz zuvor verstorbene liberale Richterin Ruth Bader Ginsburg, bevor er noch engagierter wird.

«Ruhe in Frieden, Breonna Taylor. Ihr junges Leben wurde genommen, plötzlich und ohne Warnung, ungerecht.» Der Fall der jungen Schwar­zen, die bei einer nächtlichen Razzia in ­ihrem Zuhause von mehreren Kugeln der Polizei getötet wurde, erschüttert ihn. Für diejenigen, die das zu verantworten hätten, werde es auf Erden kein Gericht geben, meint der Pastor.

Gottesdienst im Live-Stream

Deutliche Worte zu Beginn seines Gottesdienstes, den Livingston we­gen der Corona-Pandemie immer noch vor den leeren Bankreihen in der berühmten Riverside Church im Nord­­westen von Manhattan halten muss. In dem an die Gotik anlehnenden Kirchenbau hat seinerzeit schon Martin Luther King Jr. gegen den Vietnam-Krieg gepredigt. Und Nelson Mandela hat hier bei seiner ersten US-Reise nach dem Ende der Apartheid in Südafrika gesprochen.

Während an diesem Septembertag 2020 die Frühstücksgäste  draussen in den Cafés dem Sommer einen der letzten schönen Tage abtrotzen – die Innenbewirtung ist in der einstigen Pandemie-Welthauptstadt immer noch verboten –, begrüsst der Prediger im Youtube-Stream seine Gemeinde: «Willkommen bei diesem Gottesdienst, der etwas zählt!»

Progressive Christen

Rund 350 Zuschauer sind live dabei, wenn ihr Reverend über die wirtschaftlichen und persönlichen Folgen der Corona-Pandemie spricht, oder über die kämpferischen Ziele der Bürgerrechtsbewegung «Black Lives Matter» und die Politik des umstrittenen US-Präsidenten Donald Trump.

«Wir erreichen mehr Menschen als vor der Pandemie», erklärt Livingston. An die tausend Leute sähen sich im Laufe der Woche den Sonntagsgottesdienst an, und die Qualität des virtuellen Kaffeetreffs sei auch gestiegen. «Früher waren es nur kleine Gruppen, in denen sich alle kannten. Jetzt kommen zahlreiche neue Gemeindemitglieder da­­zu», berichtet er. Natürlich liessen sich nicht sämtliche Angebote ins Virtuelle über­tragen. «Deshalb bieten wir weiterhin Sozialarbeit an und verteilen Lebensmittel an Bedürftige.»

Man kann Jesus doch nicht ohne sein po­litisches Engagement für soziale Gerechtig­keit verstehen.
Reverend Michael Livingston, Riverside Church New York

Der Riverside Church gelingt es trotz aller Widerstände in diesem historisch aussergewöhnlichen Jahr, ein lebendiges Gemeindeleben aufrechtzuerhalten. «Ich kann den Geist der Kirche spüren», schreibt ein User im Live-Chat. Andere Mitglieder stellen Clips mit ihrer Message ins Netz: «Als progressive Christen haben wir eine wichtige Rolle, deshalb habe ich die Gruppe ‹Covid und die Wahlen› ins Leben gerufen», so ein junger Mann. Wieder andere laden zum Chat über «Glaube und Soziales Unternehmertum» ein, weisen auf kostenlose Covid-Tests vor der Kirche hin oder bewerben den virtuellen Second-Hand-Flohmarkt.

Finanzielle Einbussen

Die Gemeinde leide stark unter der Corona-Krise, berichtet Michael Livingston. «Viele Einnahmen sind weggefallen, und wir mussten Mitarbeiter entlassen. Das war hart. Aber wir können niemanden bezahlen, wenn es eigentlich keine Arbeit gibt.» An der kircheneigenen Kindertagesstätte zeige sich, wie sich die Stadt durch die Pandemie ver ändert habe. Viele Menschen hätten New York während des Lockdowns verlassen, andere müssten seither viel mehr aufs Geld schauen.

«Wir haben bloss noch halb so vie­le Kinder, meist von Eltern, die nur wenig zahlen können. Die Kita schreibt massive Verluste.» Trotzdem sei für die Riverside Church soziales Engagement elementar. Wie auch eine klare politische Haltung. «Die Menschen wären enttäuscht, wenn sie nicht mitbekämen, wie wir uns positionieren», sagt er. Er werde immer mal wieder gebeten, die Politik von der Kanzel fernzuhalten. «Aber man kann Jesus doch nicht ohne sein politisches Engagement verstehen», erklärt er. «Ich meine damit nicht Parteipolitik, sondern soziale Gerechtigkeit.»

Dass so viele Gläubige trotz aller Skandale zum aktuellen Präsidenten halten, ist für ihn ein Rätsel. «Trump hat dafür gesorgt, dass bisher unterschwellig brodelnde rassistische Kräfte gestärkt wurden.» Unzählige christliche Gemeinschaften würden die Eskapaden und moralisch fragwürdigen Positionen des Präsidenten einfach ausblenden. Da­rüber wundert sich Livingston. «Ich sehe bei ihm einfach keinen christlichen Glauben.»

Wunsch nach Gemeinschaft

Der Reverend ist eine Kämpfernatur, einer, der die Hoffnung nicht so schnell aufgibt. Die Krise habe den Wunsch nach Gemeinschaft ver­stärkt, und es hätten sich breitere Communitys gebildet. «Viele begrei­fen endlich, wie elementar kaputt einige Strukturen unserer Gesellschaft sind.» Gemeinsam suchten sie nun nach neuen Wegen, um zu verhindern, dass sich reiche In­dividuen und Unternehmen Vorteile auf Kosten der breiten Bevölkerung verschafften.

Dennoch fehlt dem Pfarrer der direkte Kontakt zu den Menschen. «Unsere Gemeinde war immer um einen Ort herum organisiert», sagt Livings­ton und meint damit die Kirche, die im Norden Manhattans zwi­schen der Columbia-Universität und dem Schwar­­zen-Stadtteil West Har­lem liegt und viele unterschiedliche Gläu­bige anzieht. «Wir hoffen sehr, dass wir im Januar den Gottesdienst vor Ort wieder aufnehmen können, doch das ist leider nicht sicher.»