Schwerpunkt 28. Oktober 2020, von Delf Bucher

Als die Frommen noch fortschrittlich waren

USA

Kirchliches und Politisches sind in den Staaten enger miteinander verbunden als in Europa. Welche Glaubensrichtung für welche Politik steht, hat sich aber gewandelt.

Es war paradox. Ausgerechnet Donald Trump, serienmässiger Ehebrecher, früher im Casino-Business tätig und wenig bibelkundig, wurde 2016 von 81 Prozent der weissen Evangelikalen zum Präsidenten der USA gewählt. Und jetzt mobilisiert er sie wieder: die fromme Wählerschaft, zusammengesetzt aus bibel­treuen Protestanten und erzkonser­vativen Katholiken. Mit der Wahl von Amy Coney Barrett in den Obersten Gerichtshof steht nun in Aussicht, dass das liberale Abtreibungsgesetz der USA per Gerichtsentscheid aufgehoben wird.

Fromme gegen Sklaverei

Aus europäischer Perspektive schei­nen die religionspolitischen Frontlinien in den USA schon lange klar geordnet. Wer aber ­einen Blick zu­rückwirft, stösst auf Überraschendes. Im 19. Jahrhundert gingen einige wichtige fort­schrittliche Impulse von den from­men Erweckungsbewegungen aus. Sie engagierten sich gegen Skla­verei und für sozialpoli­tische Anliegen; auch waren sie dank ihres Gemeindeaufbaus so etwas wie die Vorschule der Demokratie. So jedenfalls skizziert es der religionsgeschichtliche Aufriss von Philip Gorski in seinem neuen Buch «Am Scheideweg» (Herder 2020).

«Affenprozess» als Zäsur

Aber nach dem sogenannten Affenprozess, als 1925 Charles Darwins Evolutionstheorie auf dem Prüfstand des Gerichts verhandelt wurde, zogen sich viele Evangelikale in die selbst gewählte Isolation zurück. Ihr Beharren, wissenschaftliche Erkenntnisse mit der Bibel wegzuargumentieren, trug ihnen einen schweren Imageschaden ein.

Während die liberalen Kirchen, sprich Presbyterianer, Anglikaner und Lutheraner, um 1900 noch dezidiert die Privilegien der Weissen verteidigten, öffneten sie sich später mehr und mehr den Anliegen der Schwarzen. Der «Social Gospel» eines Martin Luther King war seit den 1960er-Jahren in der demokratischen Partei zu Hause.

Es ist der demo­grafische Wandel, der die weissen Evan­gelikalen beunruhigt.
Philip Gorski Religionssoziologe

Dies führte laut dem Reli­gions­­soziologen Philip Gorski zu einer Um­­kehrreaktion. Die Republikaner setz­­ten sich in dem bisher demokratisch dominierten Süden fest; die Demokraten wiederum gewannen im traditionell republikanischen Nordosten an Einfluss. Die regionalen Verschiebungen akzentuierte auch die politische Agenda der Parteien. Die Republikaner des Sklavenbefreiungspräsidenten Abraham Lincoln betrieben nun die Klientelpolitik für die Weissen, rückten auch ideologisch und so­zial­poli­tisch mehr nach rechts.

Mit der seit Richard Nixon (Prä­si­dent von 1969 bis 1974) strategisch eingesetzten Abtreibungsfrage gelang es den Republikanern, die katholische Wählerschaft zu spalten. Bis dahin politisierten die Katholiken loyal an der Seite der Demokraten. Seither sind sie in zwei Blöcke geteilt. Trotz der alten Animosität zwischen Evangelikalen und Katho­liken bilden sie nun in Teilen eine Allianz. Von diesem Bündnis profitierte bereits Ronald Reagan. Er siegte gegen den frommen Amtsinhaber Jim­my Carter.

Mit der Wahl von Donald Trump gelang es den Republikanern endgültig, das religiös konservative Milieu an sich zu binden. Der Präsident lieferte denn auch konservative Richter für den Supreme Court und eine Nahostpolitik ganz nach dem Geschmack der Evangelikalen.

Die Furcht der Weissen

Dass sich unter diesen Vorzeichen die weissen Evangelikalen nach vier Jahren Trump immer noch an den Rand gedrängt fühlen, scheint auf den ersten Blick unverständlich. Hier spiele, sagt Gorski, die weisse Hautfarbe eine grosse Rolle. Denn für die Weissen geht es um mehr als nur um ihre kulturkämpferischen Anliegen. Sie verteidigen ihre Privilegien. «Es ist der demografische Wandel, der sie beunruhigt.»

Nach statistischen Berechnungen wird im Jahre 2045 der Anteil der weissen Bevölkerung unter die Marke von 50 Prozent sinken. Entsprechend unterstützen nicht weisse Evangelikale Donald Trump deutlich we­niger zahlreich.