Schwerpunkt 23. Juli 2024, von Marius Schären

Allein im tiefen Wald wirkt Wunderbares

Wald

Im Jura liegt einer der grössten Wälder Europas. Dort zwei Tage und eine Nacht allein unter Bäumen zu verbringen, ist eine grosse Herausforderung und zugleich ein Segen.

Ich habe keine Angst. Jedenfalls sage ich mir das, im Voraus. Ich werde in diesen grossen, tiefen Wald gehen, wo Vögel und Ameisen leben, Luchse, Wildkatzen, Wildschweine und Wölfe, Schnecken und Zecken, vielleicht Mücken und sicher viel Mühen warten. 

Dorthin werde ich allein gehen, mit Sack und Pack, und im Wald die Nacht verbringen. Aber ich werde keine Angst haben – weil ich ja den Wald so gernhabe und ich auch schon öfter tagelang allein auf einer einsamen Tessiner Alp war, unter anderem. Das sage ich mir.

Und dann stiefle ich los, Ende Juni, mit dem drückend schweren Rucksack auf den Schultern. Ich starte an der Endstation Le Brassus im Waadtländer Jura und tauche möglichst bald ein in einen Vorwald des Grand Risoud.

Ich atme auf in der von Gewittergüssen noch feuchten Luft. Die Sonne drückt hell zwischen den Wolken und Ästen hindurch. Die Luft und das Licht, die ich so sehr liebe. Ich freue mich und fühle mich gut.

Zumindest bis auf dem Rücken des kleinen Hügels, gleich nach einer Lichtung mit schönen Blumen, plötzlich der Gedanke auftaucht wie ein Raubtier aus dem Unterholz: Was, wenn in der dunklen Nacht das Risoud-Wolfsrudel meine Schlafstätte entdeckt und mich des Hausfriedensbruchs bezichtigt?

Oder wohl noch unangenehmer: wenn eine Wildschweinrotte mit Bachen und Ferkeln vorbeizieht und meine Anwesenheit in ihrem Wald partout nicht goutiert oder gar als Bedrohung klassifiziert?

Der Zoologe

Solche Gedanken entstehen mit Blick auf Le Grand Risoud (oder Risoux). Schon nur der Name gefiel mir, als ich das Waldgebiet per Zufall vor ein paar Jahren auf der Karte entdeckte: 22 Quadratkilometer Fläche bedeckt es allein in der Schweiz. Über rund 15 Kilometer zieht es sich der gesamten Westseite des Vallée de Joux entlang.

Der Wald wächst – mit Schwierigkeiten

Pro Mensch in der Schweiz wachsen innerhalb der Landesgrenzen fast 65 Waldbäume. Sie sind durchschnittlich hundert Jahre alt. Und zurzeit nimmt die Waldfläche jährlich zu – etwa um die Fläche des Bielersees, 4000 Hektaren –, und gemäss neuen Erkenntnissen wird sie laufend dichter. Das könnte eine gute Nachricht sein, da Wälder Kohlendioxid (CO2) binden und dazu beitragen können, die Klimaerwärmung abzuschwächen.

Das erste Problem aber ist, dass Bäume langsam wachsen. Was heute gepflanzt wird, ist Ende des Jahrhunderts noch ziemlich jung für einen Baum. Die zweite Schwierigkeit: Mit der rasch stattfindenden Klimaveränderung kommen längstens nicht alle europäischen Baumarten zurecht. Denn wärmeliebende könnten wegen Kälte absterben, kälteunempfindlichen könnte es in einigen Jahrzehnten zu warm werden. Forschende in Wien und München haben die häufigsten 69 Baumarten Europas auf ihre Klimaflexibilität untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass für die Bedingungen am Jahrhundertende wohl noch knapp die Hälfte der heutigen Arten geeignet sein dürften. Auch für eine nachhaltige Sicherung der Wälder seien daher Massnahmen zur Eindämmung des Klimawandels wichtig, heisst es von den Forschenden. 

Die gesamte Waldfläche über die Grenze nach Frankreich kommt auf 120 Quadratkilometer – eine der grössten Waldketten Europas. Die Grösse, Dichte und die Grenzlage machen den Risoud zur Quelle von Mythen und Legenden.

In deren Reich verbanne ich nun meine Furcht vor nächtlichen Überraschungen – zumindest im Kopf, von dem mir die ersten Schweisstropfen in die Augen rinnen. Der Zoologe in mir, der ich einst als Kind lange werden wollte, referiert abgeklärt, diese Tiere würden ohnehin einen weiten Bogen um mich nach Jäger riechendes Wesen machen. Glücklicherweise gelingt es mir, ihm zu glauben. Auch wenn schliesslich nicht er mir tatsächlich Sicherheit geben wird. 

Der Wutbürger

Doch noch ist nichts mit Eintauchen in den Wald, Einkehr in der Ruhe und in mir selbst. Denn wenige Minuten später bekomme ich es zu tun mit dem dumpfen Röhren einer Dieselmaschine, dem Krachen und Knacken von Holz und dem Kläffen eines Hundes – und vor allem erwacht der Wutbürger in mir. 

Zwar bin ich dankbar, dass der Hund bloss kurz in der Ferne auftaucht und wieder verschwindet – denn er ist nicht eines der grösseren Tiere, die ich zu sehen gehofft hatte –, doch dann fluche ich sehr laut. Der bisher so schöne Weg ist futsch: Vor mir erstreckt sich ein breites Band aus tiefer, nasser Lehmerde als einzige Möglichkeit weiterzukommen. Denn der Wald rundum ist unwegsames Dickicht und mit schwerem Rucksack nur höchst mühselig durchdringbar. 

Der Wutbürger in mir beginnt sofort einen bösen Brief aufzusetzen. Ans Forstamt, an Waadtland-Tourismus, an die Gemeinde, an die Schweizer Wanderwege. Einige geharnischte Zeilen schreibe ich in Gedanken, dass doch ausgeschilderte Wanderwege auch als solche gepflegt werden sollten, während ich teils im Lehm runterrutsche, mich teils am Rand der Dreckschneise durchs nasse Gebüsch kämpfe.

Bis spätestens in einem Tälchen mit Weideland und ohne Wald der wirtschaftliche Rationalist in mir mich besänftigt: Ein grosser Wald braucht viel Pflege, sagt er, und dafür sind grosse Maschinen nötig, während ich zwischen fast haushohen Baumstammstapeln hindurchstolpere, die rechts und links des Weges liegen. Dann geben sie einen Blick frei auf das saurierhafte Ungetüm, das mir so viel Mühsal beschert hat: ein Rottne H21D, über 24 Tonnen schwer, «ein stabiler, effizienter Harvester für die Endnutzung», wie es auf der Website heisst: ein «Holzvollernter».

Der Wissensdurstige

Ja, der Risoud ist kein Urwald. Ein weit verzweigtes Netz von Wegen und Strässchen durchzieht ihn. Dazu kommen Forstschneisen, die immer wieder abzweigen vom Weg. Was wird hier rausgeholt? Gemäss der Generaldirektion für Umwelt des Kantons Waadt ernten Forstleute auf Schweizer Boden 7000 bis 8000 Kubikmeter Holz jedes Jahr.

Eine extrem intensive Nutzung ist das nicht: Schweizweit werden jährlich etwa 4,5 Millionen Kubikmeter geholzt. Im Risoud sind es vor allem Fichten, zu einem kleinen Teil auch Buchen. Das Holz wird unterschiedlich verwendet und bringt unter anderem Wärme in Fernheizungen im Vallée de Joux. 

Ebenfalls gefragt ist ein Teil der Risoud-Fichten als Resonanzholz. Unübersehbar belegen das die grossen Plakate, die den «Sentier didactique du bois de résonance» (Lehrpfad des Resonanzholzes) begleiten. Ich stosse zufällig und dankbar auf sie. Denn die verständlichen und schönen Infotafeln liefern interessanten Hintergrund und willkommene Gelegenheiten für Pausen, um nicht nur meinen Wissensdurst zu stillen. 

Dabei erfahre ich, dass Holz gegenüber der Luft für Schall geradezu ein Superturbo ist: Durch die Luft erreicht mich der jetzt noch fern grollende Donner mit einer Geschwindigkeit von 300 Metern pro Sekunde. Durch das Holz hingegen ginge das fast blitzschnell: nämlich 6000 Meter in der gleichen Zeit.

Der Geschichtsbetroffene

Kein Vergleich zu meinem Tempo. Stetig geht es leicht bergauf. Es ist drückend, mal schieben sich dunkle Wolken zwischen die Wipfel, mal zündet wieder die Sonne auf den Weg, die Blumenvielfalt am Rand, auf Käfer und Hummeln. Das Handy hat jetzt keinen Empfang mehr. 

Und plötzlich merke ich in meinem Trott, wie sehr ich schon auf Stille und Einsamkeit geeicht bin. Ein weisser Schmetterling vermag mich richtiggehend zu erschrecken, als er von hinten recht nah in mein Gesichtsfeld gaukelt. Und das kollektive Lossummen der Fliegen von einem Kuhfladen auf dem Weg empfinde ich schlicht als Lärm. 

Wo Wiederaufforstung Biodiversität bedroht

Bäume zu pflanzen, ist sympathisch. Dem Reformator Martin Luther wird der Satz nachgesagt (so oder ähnlich): «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.» Diese Aussage wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Symbol für den Wiederaufbau und hatte Baumpflanzungsaktionen zur Folge. Und im Jahr 1989 brachte der Musiker Reinhard Mey eine Platte heraus mit dem Titel «Mein Apfelbäumchen».

Milliarden für Bäume

Weltweit werden Milliarden von Franken in Aufforstung investiert. Einerseits mit dem Ziel, Holz ernten zu können, anderseits auch für den Klimaschutz. Doch das kann sich zu einem grossen Problem entwickeln, wie eine aktuelle Studie der University of Liverpool zeigt. Das deutsche Magazin «Spektrum» zitiert die Studienleiterin Kate Parr: «Statt Klima und Natur zu schützen, werden in grossem Massstab wertvollste Ökosysteme zerstört.»

In der Studie wurde das Programm «African Forest Landscape Restoration» untersucht. Dessen Ziel ist es, bis 2030 auf einer Fläche von 130 Millionen Hektaren «ökologisch geschädigten» Landes Bäume zu pflanzen – mehr als 30-mal die Fläche der Schweiz. Die Weltbank unterstützt es mit einer Milliarde Dollar, weitere 540 Millionen kommen von privaten Investoren. Projektpartner ist das deutsche Entwicklungshilfeministerium.

Das Ziel, die riesige Fläche in 30 af­rikanischen Ländern ökologisch zu sanieren, wird aber gemäss den Forschenden weit verfehlt. Grossflächig würden Bäume gepflanzt in Lebensräume, wo sie nicht hineinpassten. In dafür ungeeignete Savannen und
Grassteppen werde die Hälfte der Bäume des Programms gesetzt. Dies bedroht gemäss der Studie nicht nur Tiere und Pflanzen dieser Lebens­räume, sondern auch die Menschen dort. Ferner kämen Arten wie Akazien aus Australien oder Eukalyptus in die Pflanzungen, die den Wasser­haushalt gefährden würden. Die Forschenden fordern einen Stopp des Programms und eine Anpassung, damit tatsächlich wirksam aufgeforstet wird.

In dieser eigenen Welt fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie sich eine Gruppe von Menschen fühlte, die in der Holzfällerhütte «de l’Hôtel d’Italie» von September 1943 bis Mai 1944 Zuflucht fand. Es war die Schweizerin und Rot-Kreuz-Helferin Annemarie Im Hof-Piguet mit 14 meist jüdischen Frauen und Kindern. Sie hatte ihnen zur Flucht aus dem von Nazi-Deutschalnd besetzten Frankreich verholfen, wie eine Tafel in der karg eingerichteten Hütte informiert. Unterstützung gab es zum Beispiel von Piguets Vater Henri-Joseph, Forstingenieur im Risoud.

Ein langer, dunkler Winter mitten in diesem Wald, in dieser Hütte auf gut 1280 Metern über Meer, in diesem Tal, das geradezu berüchtigt ist für seine Kälte und die Bise. Aus einer Hoffnungslosigkeit geflüchtet in die völlige Ungewissheit. Immerhin hatten sie eine der wohl grössten Holzfällerhütten des Waldes als Zuhause. Wie Sterne am Nachthimmel sind im Risoud die sogenannten «refuges» verteilt, meistens winzige Häuschen, in denen jeweils zumindest ein kleiner Holzofen, zwei Bänke und ein Tisch stehen. 

Das Erstaunliche sind die Namen: nebst dem «Hôtel d’Italie» gibt es etwa die Hütte «de la Gare du Nord» (ein grosser Bahnhof in Paris) oder «du Bonnet de Police» (Polizeimütze). Laut der Waadtländer Umweltdirektion sind die Namen unterschiedlichen Ursprungs. Einige davon erinnerten an die Erbauer der Hütten, andere an historische Ereignisse, die sich dort ereignet haben, und teils seien sie einfach mit Anekdoten über die Hütten verbunden.

Doch während ich in den Abend hineinwandere, mag ich mir nicht einmal mehr die Geschichten vorstellen, die in den bestimmt heiteren Holzfällerrunden vor langer Zeit erzählt wurden auf der Suche nach einer möglichst originellen Bezeichnung für ein Häuschen.

Der Überraschte

Ich bin müde und ausgelaugt, verschwitzt, will bitte schön nur einen hübschen Platz für die Nacht finden. Und vor allem will ich möglichst gut geschützt sein, ganz egal, was kommen mag. Als es leicht zu regnen beginnt, grummle ich vor mich hin und klinge wie der Donner, der schon etwas näher gerückt ist. 

Immerhin scheinen die Hängematte als Bett und eine Zeltblache als Dach eine gute Wahl. Denn der Risoud bietet keinen guten Boden für ein Zelt oder schon nur ein Mätteli: übersät mit kleinen und grossen Kalksteinen, Unebenheiten, oft zwar moosbedeckt, überwachsen, aber dennoch eher holprig. Ausserdem ist es überall pitschnass.

Noch gerade rechtzeitig finde ich den hübschen Platz. Auf einer sanften Kuppe, mit Buchen statt dunkler Tannen, Gras da und dort. Rasch hänge ich meine Ruhestätte auf – und wenig später ergiesst sich von Blitz und Donner begleitet in der Dämmerung ein Wolkenbruch, der sich gewaschen hat. In grosser Müdigkeit registriere ich noch, ziemlich überrascht: Ich finde es schön. Hier fühle ich mich geschützt, in der Hängematte getragen und bin dank Tarp im Trockenen.

Früh schlafe ich ein. Die grosse Ruhe, vom Regenrauschen abgesehen, wirkt eigentümlich behütend. Und als ich ab dem sehr frühen Morgen immer wieder erwache, weil die Kälte mich am Rücken packt, da, wo der Schlafsack zusammengedrückt wird, lausche ich in die Stille hinaus. Und staune, dass ich in mir kein bisschen Furcht finde. 

Der Genusssüchtige

Erste Vogelrufe erklingen in der Morgendämmerung. Vor allem das Rotkehlchen mit seinem perlend-melancholischen Gezwitscher ist zu hören. Manchmal eine zauberhafte Singdrossel, etwas höher in den Bäumen, etwas ferner. Tropfen hängen überall an Zweigen, Blättern, Nadeln, Gräsern, blitzen auf im ersten Sonnenlicht. Feine, kleine Nebel lösen sich sachte auf. 

Es ist einfach nur wunderschön. Ich will in der Matte hängen und für immer hier sein. Warum ich mich in der Nacht so sicher fühlte, unglaublich wohl und geborgen, realisiere ich erst ein paar Tage später: weil ich und auch mein Dach ganz von Bäumen getragen waren. Aus einem Impuls heraus bedanke ich mich dafür an diesem Morgen bei «meinen» Bäumen. 

Ich ziehe weiter durch den Wald. Der Risoud ist an den meisten Stellen weder lieblich noch einfach schön. Auf baumwanderungen.ch ist gut beschrieben, was ich empfinde: «Dieser Wald ist anders, als wir ihn kennen. Er hat etwas Unnahbares, Unergründliches.» 

Dass ich trotzdem so glücklich bin, schwer beladen hier sein zu können, mag auch an biochemischen Effekten liegen. Waldbaden, Shinrin Yoku, wird in Japan sogar verschrieben. Das hat nichts mit Esoterik zu tun: Viele Auswirkungen sind wissenschaftlich belegt. Terpene, Duftstoffe der Pflanzenkommunikation, helfen beispielsweise mit, das Immunsystem zu stärken und Stresshormone zu reduzieren.

In den Wald eintauchen kann unter Umständen gegen Depressionen besser wirken als Medikamente. Die Sinnesreize im Wald fördern über Effekte im Gehirn das Wohlgefühl und die Entspannung. So wächst in mir, während ich in den Tag gehe und der Wald fast gleichtönig um mich vorbeizieht, die Überzeugung: Ich könnte gut noch tagelang einfach im Wald bleiben.

Der Demütige

Ich habe wirklich keine Angst. Jetzt weiss ich, dass ich mir das nicht einrede. Der Wald ist einfach da, er kümmert sich nicht um mich. Ob ich auch da bin oder nicht – einerlei. Fast physisch spüre ich bereits auf den letzten paar Hundert Metern im Wald: So bedeutungslos zu sein, macht frei. Es hebt den Deckel vom Geist, entfernt die Scheuklappen beim engen Blick, nimmt Lasten von den Schultern – jedenfalls innerlich. 

Äusserlich bin ich schon froh, am sommerwarmen Nachmittag im Bahnhof von Le Brassus meinen Rucksack abstellen zu können. Eine Schulter ist etwas aufgescheuert, mein Körper ist müde. 

Aber tatsächlich will ich wieder in den Wald, mehr als zuvor. Möglichst mit weniger Zeug. Trotz der grossen Erschöpfung im Moment spüre ich, wie gerade das Gefühl, überflüssig zu sein, mir eine wunderbare Kraft gibt, zart auf eine Art und doch voll und fest. Mir scheint, dass ich daraus Mut schöpfen kann für Taten. Und mir scheint, als wäre das genau die Kraft, die der Schöpfung innewohnt.