«Ohne Einsicht verändert sich nichts»

Wald

Der Pfarrer Uwe Habenicht spricht über Gotteserfahrungen in der Natur. Und er sagt, weshalb die Kirche nicht die gleichen Fehler wie die radikale Klimabewegung machen sollte.

Lässt sich Gott im Wald erfahren?

Uwe Habenicht: Die Gotteserfahrung und die Selbsterfahrung gehören zusammen, weil wir in der Gotteserfahrung gar nicht anders können, als uns im Lichte Gottes neu und anders zu verstehen, so wie in Liebesbeziehungen ja auch. Der Wald als ein ungerichteter Raum, der uns zu nichts auffordert und nichts von uns fordert, eröffnet uns einen neuen Zugang zu uns selbst und damit auch zu Gott. Im Wald entdecken wir uns selbst als leibliche Wesen, die immer schon eingebettet sind in eine vielfältige Mitwelt.

Und was geschieht dann?

In der Schöpfung finde ich Spuren des Schöpfers. Ich kann mich als Geschöpf unter anderen Geschöpfen begreifen. Oft scheinen wir ja von der Schöpfung getrennt, wir kultivieren die Natur und verzwecken sie damit. Im Wald kann ich diese Grenze überwinden. In der Natur muss ich nichts tun, ich darf einfach sein, kann beobachten und die Augen und Sinne für die Wunder der Natur öffnen, hinter der ich Gott spüre. Die Ameise findet ihren Weg ohne mich. Ich werde zu einer Stimme im Konzert der Schöpfung.

Uwe Habenicht, 55

Uwe Habenicht, 55

Seit 2017 ist Uwe Habenicht Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Straubenzell, St. Gallen, und Beauftragter für Gottesdienst und Pastorales der reformierten Kirche im Kanton St. Gallen. Er ist Gründer der St. Galler Waldkirche «Waldgwunder». 

  

Literaturhinweis: Uwe Habenicht: Draussen abtauchen. Freestyle Religion in der Natur. Echter, 2022

Und wenn Sie eine Mücke sticht? 

Dann kann ich die Mücke als Metapher begreifen. Auch ich benehme mich manchmal wie ein Blutsauger. Wir Menschen beuten die Natur aus, und wir benehmen uns untereinander allzu oft wie Blutsauger, indem wir einander ausnutzen.

Ein Mückenstich lässt sich vielleicht noch als Metapher lesen, aber die Natur kann ein abweisender Ort sein. Als Geschöpf unter Mitgeschöpfen verliert der Mensch seine Bedeutung. Der Natur ist es egal, wenn in ihrem Konzert eine einzelne Stimme verstummt.

Richtig. Geschöpf unter Geschöpfen zu sein, kann eine ambivalente Erfahrung sein. Denn es ist ja völlig klar, dass ich hier nicht mehr die Hauptrolle spiele. Ich glaube aber, dass in einer Zeit, in der wir sehr auf unser Ego fixiert sind und meinen, alles hänge von unserer Leistung ab, es die meisten Menschen als eine Entlastung empfinden, keine Rolle mehr spielen und für einmal nichts erreichen zu müssen.

Die eigene Bedeutungslosigkeit wird als eine Befreiung erfahren? 

Ich glaube schon. Denn der eigene Bedeutungsverlust ist eine bedeutsame Erfahrung. Wir sind im Alltag sehr stark in soziale Gefüge eingebunden, in denen wir Rechte haben und uns Pflichten auferlegt sind, immer etwas von uns verlangt wird. Für viele Leute wird die Natur zu einem Entlastungsraum.

Der Bedeutungsverlust in der Natur wird zur bedeutsamen Erfahrung.

Aber ist es nicht eine urmenschliche Sehnsucht, gesehen zu werden? Eben doch eine Rolle zu spielen?

Wir wollen selbstwirksam sein, gebraucht werden. Zum Geschöpf unter Geschöpfen zu werden, bedeutet zuallererst, auszusteigen aus der Zentralität des eigenen Denkens und Daseins. Sich in so einem Kreislauf wiederzufinden, ist zuerst einmal irritierend. Aber ich glaube, dass es als etwas sehr Schönes empfunden wird, weil ich zur Schöpfung dazugehören darf, ohne dafür irgendetwas leisten zu müssen. Oft fühle ich mich ja isoliert, weil ich die Voraussetzungen nicht erfülle, um zu einer bestimmten Gruppe zu gehören. In der Natur reicht für die Zugehörigkeit allein meine Anwesenheit. Natürlich bin ich weiterhin unterschieden von den Tieren und Pflanzen, die mich umgeben, doch ich bin Teil eines Zusammenhangs.

Nun haben Erlebnisse in der Natur zuweilen durchaus mit Leistung und Lifestyle zu tun: das Foto vom Berggipfel auf Social Media oder die neuste Outdoor-Mode. 

Es gibt bestimmt auch Menschen, die Naturräume aufsuchen und sie wieder verlassen, ohne dadurch ihre Haltung zu verändern. Sie verlagern dann nur den Ort, die Natur wird zur Kulisse der eigenen Selbstinszenierung und Leistungsschau. Ich glaube jedoch, dass sich dahinter eine tiefe Sehnsucht verbirgt: Auch diese Menschen warten auf magische Momente in der Natur.

Sie präparieren sich mit dem Kauf des teuren Equipments für die flüchtigen Momente der Wunder? 

Genau. Und das ist doch eigentlich sehr schön, wenn wir uns auf Momente vorbereiten, ohne es in der Hand zu haben, dass sie sich auch tatsächlich ereignen. Wenn wir ein Fussballspiel anschauen, tun wir uns manchmal auch quälendes Ballgeschiebe an in der Hoffnung, dass irgendwann ein Spieler einen Geistesblitz hat und doch noch ein Tor schiesst, das in Erinnerung bleibt.

Eine Verhaltensänderung gelingt nur durch Einsicht und kann nicht verordnet werden.

Allerdinges nützt die beste Vorbereitung nichts, wenn eine Gewitterfront die Bergtour verhindert.

Ja. Und auch diese Erfahrung kann wertvoll sein: die Erkenntnis, dass ich nicht alles planen kann. Manchmal muss ich zu Hause bleiben oder mitten im Aufstieg umkehren.

Spielt es für Sie eine Rolle, ob jemand mit dem Auto in die Berge fährt, um die Natur zu geniessen?

Ich will nicht moralisieren. Vielleicht ändern die Leute ihr Verhalten, wenn sie die Schönheit der Natur erkennen und die Schäden sehen, die wir angerichtet haben. Die radikale Klimabewegung musste erkennen, dass zu viel Druck zu einer Trotzreaktion, zum Stillstand führt. Als Kirche sollten wir nicht den gleichen Fehler machen.

Drängt die Zeit nicht? Im Alten Testament wird Jeremia von Gott beauftragt, einen Tonkrug zu zerschmettern (Jer 19), und warnt vor dem Untergang. Die prophetische Tradition gehört doch zur Kirche?

Natürlich sollen die Klage und die Wut über die Zerstörung der Natur und die Unfähigkeit der Menschen, endlich einen Umgang mit der Umwelt zu finden, der nicht auf Raubbau basiert, auch Platz haben. Doch eine Verhaltensänderung gelingt nur durch Einsicht und kann nicht verordnet werden.

Nach einem spirituellen Erlebnis bleibt das Auto vor der nächsten Bergwanderung in der Garage?

Womöglich muss ich gar nicht mehr in die Berge fahren, weil mir der nahe Wald reicht. Ohne Verzicht geht es nicht. Ich bin überzeugt, dass Leute eher dazu bereit sind, wenn sie sich nicht als fremd erleben, sondern sich der Natur zugehörig fühlen.