Kultur 30. August 2024, von Christian Kaiser

«Die Kirche ist immer mit der neusten Mode gegangen.»

Kunst und Kirche

Die Schweizerische St. Lukasgesellschaft fördert künstlerische Ausdrucksformen im kirchlichen Raum. Zum 100-jährigen Bestehen serviert sie ein fulminantes Feuerwerk aus 30 Werken.

Vor einem Jahrhundert gründeten Künstlerinnen und Künstler, Kunstfreunde und Architekten sowie Vertreterinnen und Vertreter der katholischen Kirche die Schweizerische St. Lukasgesellschaft (SSL) und organisierten sich als Verein.Es war ein Jahrhundert, in dem vieles in Bewegung geriet und blieb, gerade in der Kunst und in der Kirche. Von Anfang an wollte die SSL eine Plattform des Dialogs sein, ein Raum des Nachdenkens über die Beziehung von Kunstwerk und Kirchenbau und das Verhältnis von Architektur und Liturgie.

Ein Kirchen-Kitschverbot

«Zeitgenössische christliche Kunst auszuüben und zu fördern» lautete das primäre Ziel bei der Gründung 1924. Die SSL hatte aber auch den Anspruch zu definieren, was künstlerische Qualität bedeutet und welche Form von Kunst einem heiligen Ort gerecht wird. 

Deshalb standen in ihrem Pflichtenheft auch die «Bekämpfung unkünstlerischer Fabrikware in Kirche und Haus» sowie das Ergreifen «schützender Massnahmen gegen den Import ausländischer Erzeugnisse von geringem künstlerischem Wert». So hielt es der zweite Artikel der Statuten fest. Das war nicht nur Protektionismus für die heimische Kunst, sondern auch ein Anti-Kitsch-Artikel, der sich beispielsweise gegen massenproduzierte Madonnen richtete.

Wie wir es mit der Technologie im Kontext von Religion halten, ist eine ernst zu nehmende zeitgenössische Fragestellung.
Matthias Berger, Präsident Schweizerische St. Lukasgesellschaft SSL

Modern ausgerichtet statt konservativ

Einer der offiziellen Aufträge der katholischen Obrigkeit lautete seit 1917, die Tradition der christlichen Kunst zu wahren: «Die Oberhirten haben dafür Sorge zu tragen, dass beim Bau oder bei der Renovation von Kirchen die von der christlichen Überlieferung übernommenen Formen sowie die Gesetze der kirchlichen Kunst gewahrt bleiben.» Die SSL sollte helfen, diesem Anspruch gerecht zu werden. Aber was bedeutete das ganz konkret?

Schon bald wurde die SSL der Ort der Debatte über das Konfliktfeld Tradition versus Moderne. Der erste Präsident verwehrte sich vehement gegen eine konservative Haltung: Die Kirche sei in der Kunst «immer mit der neusten Mode» gegangen und habe «jede Kunstrichtung in ihren Dienst gestellt, selbst dann, wenn sie durchaus nicht auf kirchlichem Boden gewachsen war», schrieb Alois Süss 1927.

Wolken im Hauptbahnhof ...

Im Zitat zeigt sich die eigentliche Grundhaltung der SSL: Man müsse mit der Zeit gehen. Und daher lautet denn auch das Motto des Jubiläumsanlasses: «100 Jahre gegenwärtig». Matthias Berger, der aktuelle Präsident der SSL, betont, dass sich die Lukasgesellschaft fest in der Gegenwart verankert sehe und das auch weiterhin zu bleiben gedenke: «Ich finde es schon bemerkenswert, dass wir hundertjährig werden konnten und immer noch hochaktuell sind.»

Berger freut sich darum sehr auf die Feierlichkeiten und Ausstellungen zum Jubiläum, die am 31. August starten. Ganz besonders gespannt ist er auf die Installation in der Bahnhofskirche Zürich, wo er selbst als reformierter Pfarrer tätig ist. Der Künstler Hans Thomann beschäftigt sich im Andachtsraum mitten im Hauptbahnhof in seiner Arbeit «Hinter den Wolken» mit dem lichtvollen Danach nach dieser irdischen Existenz.

... und künstliche Intelligenz in der Kapelle

«Auch was in der Peterskapelle in Luzern geschieht, wird sicher extrem spannend», sagt Berger. Dort wird eine Jesus nachempfundene Figur im Beichtstuhl mit den Mitteln der Künstlichen Intelligenz auf die Fragen des Publikums antworten. «Wie wir es mit der Technologie im Kontext von Religion halten, ist eine ernst zu nehmende zeitgenössische Fragestellung», sagt Matthias Berger. 

Ein vielfältiges Programm: Jubiläumstagung, 30 Kunstinterventionen und ein Buch

Ein vielfältiges Programm: Jubiläumstagung, 30 Kunstinterventionen und ein Buch

Die Schweizerische St. Lukasgesellschaft für Kunst und Kirche (SSL) bietet Beratung beim Bau und der Gestaltung von Kirchen und Räumen der Stille an und vermittelt Kunstschaffende für Projekte in Sakralräumen.

Den Auftakt des 100-Jahr-Jubiläums begeht die SSL am 31. August mit einer Tagung in Köniz rund um «Spirituellen Spuren in Kunst und Architektur», das Schwerpunktreferat ist jüdischer Kunst gewidmet. Zeitgleich zeigen Kunstschaffende in rund 30 Schweizer Kirchenräumen ihre Jubiläumsprojekte; einen Überblick gibt eine ArtMap. 

Wer sich eingehender mit der SSL und ihrer Geschichte beschäftigen will, kommt mit dem im TVZ erschienenen Jahrbuch «GEWAGT! 100 Jahre gegenwärtig» auf seine Kosten.

www.lukasgesellschaft.ch

Junge Kunstschaffende ...

Berger sagt, er stelle fest, dass sich auch junge Kunstschaffende wieder vermehrt dafür interessierten, mit religiösen Räumen in den Dialog zu treten. Oft seien sie zwar keine «Kirchenkünstler», interessierten sich jedoch für spirituelle Themen: «Die Geheimnisse von Tod und Leben – solche Sinnfragen sind wichtig und salonfähig in der jungen Kunstszene. Und: Die Arbeit in kirchlichen Kontexten macht auch immer etwas mit der kunstschaffenden Person.» 

... und in der Tradition verhaftete Mystiker

Einer der ausstellenden Künstler ist der Walliser Mystiker Vincent Fournier, der seit Längerem mit den Themen der Himmelsleiter und des Kreuzwegs arbeitet, immer auf der Suche nach neuen Formen der Abstraktion und des seelischen Ausdrucks. Im Rahmen des SSL-Jubiläums sind Werke von ihm in Kirchen in der Kartause Ittingen und in Siders zu sehen. Im Kloster Géronde in Sierre beschäftigt er sich mit den vier Elementen eines kontemplativen, klösterlichen Lebens: Lektüre, Meditation, Gebet und Kontemplation.

Das Ringen um eine kirchengerechte Ästhetik

Der Architekt Hermann Baur schrieb 1928 zur Frage, welche Form von Kirchenbau zeitgemäss sei, man brauche neue Lösungen, «die den Stempel unserer Zeit sichtbar an der Stirne tragen». Die Frage, welche Form von Ästhetik einem Heiligen Ort gerecht werde, sorgte für heftige Spannungen, ja Spaltungen innerhalb der SSL. 

Etwa 1932 als sich die Romands von den Deutschschweizern mit einer eigenen SSL-Sektion lösten: Mit ein Grund war die Ablehnung des "nudistischen" Architekturstils von Le Corbusier, der in jener Zeit verschiedene Deutschschweizer Kirchen bauen durfte. 

Der Kunsthistoriker Linus Birchler hingegen verteidigte die Ästhetik der Moderne vehement: «Jede gesunde Kunst war im Augenblick ihres Entstehens 'modern', sprach also die Sprache ihrer Zeit», schrieb er 1934 in «Ars Sacra», dem Publikationsorgan der SSL. 

Der Konflikt zwischen den Romands und den Deutschschweizer Vertretern innerhalb der SSL war vor allem einer zwischen «lateinisch» geprägter Ästhetik, die dekorativer, lebensfroher ausgerichtet war (mit Nähe zum Art Déco), und der am Neuen Bauen und der Neuen Sachlichkeit orientierten Ästhetik der Deutschschweizer. 

Was ist christliche Kunst?

Auf die Frage, weshalb es die SSL auch weiterhin brauche, antwortet Vincent Fournier: «Die Gläubigen benötigen ein Bindeglied zwischen ihrem spirituellen Leben und der Kunst.» Denn die wirklich inspirierte Kunst sei immer auch Ausdruck des spirituellen Innenlebens einer oder eines Kunstschaffenden. «Sie eröffnet einen anderen Zugang der Erkenntnis – wie die Poesie.» Der SSL gelinge es mmer wieder, beim Publikum Zugänge zu Spiritualität zu eröffnen. 

Die Gefahr sei aber: «Wenn die vertiefte und kritische Reflexion darüber fehlt, was und wie künstlerisch Spiritualität ausgedrückt wird, dann wird die SSL zu einer Institution unter vielen, die einfach künstlerische Installationen realisiert – an irgendeinem Ort zu irgendeiner Zeit.» Und da wäre man dann wieder beim Ringen um den eigentlichen Vereinszweck von 1924; «Christliche Kunst», was ist das überhaupt?

Interspiritualität und Multireligiosität

Und in welche Richtung steuert die SSL in Zukunft? «Heute geht es vermehrt auch darum, Ausdrucksweisen für Interspiritualität und Multireligiosität in offener, experimenteller Art und Weise zu suchen», sagt Matthias Berger. 

Bis 1958 musste man noch katholisch sein und das Schweizerbürgerrecht haben, um Mitglied zu werden – richtig offen und durchmischt ist die SSL erst seit den 80er-Jahren. Heute sind drei von acht Vorstandsmitgliedern Reformiert, die Zürcher Landeskirche und zahlreiche Kirchen sind Mitglieder bei der SSL. Rita Famos von den Evangelischen Kirchen der Schweiz EKS ist im Patronatskomitee des Jubiläums.