Meinung 27. September 2022, von Ralph Kunz

Was beten wir da überhaupt?

Lebensfragen

Das Unservater gehört zu jedem Gottesdienst. Aber was betet die Gemeinde da eigentlich? Theologieprofessor Ralph Kunz erklärt.

Das Unservater ist wie ein Konzentrat der Lehre Jesu. Oder poetischer ausgedrückt: der Herz­schlag seines Glaubens! Wenn wir beten wie Jesus, übernehmen wir seinen Glauben, sprechen nach, was er uns vorspricht, nehmen wahr, was er verspricht, und werden so in seine Gottesbeziehung hineingenommen. Weil wir Täter seiner Worte werden und reden wie Gottes Töchter und Söhne.

Ralph Kunz

Ralph Kunz (*1964) ist seit 2004 Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind Homiletik, Liturgik und Poimenik. Kunz studierte in Basel, Los Angeles und Zürich Theologie und habilitierte in Bonn. Bevor er zurück an die Universität wechselte, war er Beauftragter für den Bereich Gemeindeaufbau in den gesamtkirchlichen Diensten der Zürcher Landeskirche und ein Jahr Pfarrer in Seuzach. Ralph Kunz wohnt in Winterthur. Für «reformiert.» beantwortet er in der Rubrik Lebensfragen regelmässig Fragen aus der Leserschaft zu Glauben und Theologie.

Die Alte Kirche lehrte, dass wir «in Jesus» zum himmlischen Vater beten. Die Anrede mit der Bitte um die Heiligung des Namens ist zentral für das Verständnis der folgenden Bitten. «Dein Reich komme, Dein Wille geschehe» benennt die Ausrichtung, in der sich die Welt bewegen soll, und bekennt sich zur Aussicht, dass Gott der Welt entgegenkommt – im Wissen, dass noch kein «Himmel auf Erden» ist und wir hier und jetzt bedürftig sind. Wir brauchen Nahrung, sind auf Vergebung und Schutz vor dem Bösen angewiesen. Es sind die elemen­taren Lebensvollzüge, in denen Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe zusammenwirken.

Die Macht der Versuchung

Kritisch gewendet: Wer nicht mehr ums tägliche Brot bittet, vergisst, dass Gott die Quelle des Lebens ist; wer meint, Gottes Vergebung in Anspruch nehmen zu dürfen, und seinen Schuldnern nicht vergibt, verhärtet sich gegenüber seinen Nächsten; wer die Macht der Versuchung unterschätzt, traut sich selbst zu viel zu.

Das Bitten im Geist Jesu übt unsere Demut. Es ist eine Beugung vor dem, der sich uns zuneigt, und eine Hinwendung zu dem, der uns wieder aufrichtet. Beten hat darum nichts Unterwürfiges. Im Gegenteil: Das Himmelreich zu erbitten, ist aufmüpfig. Es lässt uns wachsen. Denn sein ist die Kraft und sein ist die Hoffnung, dass der Tag kommt, an dem das grosse Licht alle Finsternis vertreibt.

Weiterführende Literatur

Das Unservater ist der Kerntext der christlichen Gebetstradition. Entsprechend gross ist die Bibliothek der Bücher, die das Unservater – bei den Katholiken auch Vaterunser – auslegen, interpretieren und kommentieren. Ich habe eine kleine Auswahl aus dieser Literatur zusammengestellt, die ich und andere empfehlen.

Die Anrede «Vater» bereitet manchen Betenden Unbehagen. Eine gute Auseinandersetzung bietet dieser Artikel, der auch zum Download bereit steht: Sabine Bieberstein, Unser Vater Gott. Grund und Grenzen der Vateranrede an Gott, in: Gottesmetaphorik und Geschlecht in der Bibel, in: Irene Leicht u.a. (Hg.), Arbeitsbuch feministische. Theologie. Inhalte, Methoden und Materialien, in: A. Bauer: «Gott bin ich und nicht Mann»: Perspektiven weiblicher Gottesbilder. Matthias-Grünewald-Verlag, 83-104.

Sehr inspirierend ist dieses wunderbar poetische und theologisch gehaltvolle Buch zum Unservater: Xandi Bischoff/Nadine Seeger, Improvisationen zum Unservater. «Wie wenn ich beten könnte.», Basel 2020.

Lehrreich und solide ist die Publikation des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, der heute Evangelisch-reformierte Kirche der Schweiz (EKS) heisst: Rede und Antwort stehen. Glauben nach dem Unservater, hgg. von  Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK, Zürich 2014.

Wer sich mehr für die theologische Auslegung und Deutung in anderen Traditionen interessiert, folgende diese Klassiker empfohlen:

Fritz Neugebauer: Das Vaterunser - eine theologische Deutung,  Leipzig 2008. Leonardo Boff, Vater Unser. Das Gebet der Befreiung, München 2011.

Romano Guardini: Gebet und Wahrheit - Meditationen über das  Vaterunser, Freiburg i. B.  2011

Teresa von Avila: Weg der Vollkommenheit, Freiburg i. B. 2020 Klaus Berger: Das Vaterunser - mit Herz und Verstand beten, Freiburg  i. B 2014.

Tom Wright: The Lord and His Prayer, London Rowan Williams, Being Christian: Baptism, Bible, Eucharist, Prayer, London 2014. Das Buch wird zurzeit auf Deutsch übersetzt und erscheint 2023 im TVZ.