Recherche 16. September 2021, von Christian Kaiser

Ein Kongress befasste sich mit der Kritik von Bibeltexten

Theologie

Am 17. Theologiekongress in Zürich verhandelten Expertinnen und Theologen aus ganz Europa ein spannungsgeladenes Thema: «Heilige Schriften in der Kritik». Eine Bilanz.

Der 17. Europäische Theologiekongress war vom 5. bis 8. September in Zürich zu Gast. Wissenschaftlerinnen, Bibelexperten und praktizierende Theologinnen aus ganz Europa reisten an, um sich über ein spannungs- und konfliktgeladenes Thema auszutauschen: «Heilige Schriften in der Kritik». Das Spannungsfeld, um das es dabei geht: Auf der einen Seite gelten heilige Texte ja als sakrosankt, also unverhandelbar, auf der anderen Seite nutzen Theologen seit jeher Methoden der Kritik, um heilige Schriften besser zu verstehen. Fachvorträge und Arbeitsgruppen griffen verschiedene Aspekte des Themas auf. Dass die Schriftkritik bereits in der Antike ihren Anfang nahm, verdeutlichte beispielsweise ein Vortrag von René Bloch von der Uni Bern über die jüdische Bibelkritik am Montag.

Neben den Hauptvorträgen von Koryphäen auf ihrem Gebiet standen auch Empfänge und Apéros auf dem viertägigen Programm. Die Kongressgäste konnten sich zudem an Morgenandachten in der Predigerkirche oder an einer Führung im Lavaterhaus begegnen und unterhalten. Für Organisator Konrad Schmid, Professor für Altes Testament an der Universität Zürich, bestand einer der Hauptgewinne des Kongresses denn auch in der zwischenmenschlichen Begegnung: «Zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren gab es wieder die Gelegenheit, sich persönlich mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen.» Der Kongress richtete sich nicht nur an wissenschaftliche Expertinnen und Experten, sondern auch an Pfarrerinnen und Pfarrer und theologisch interessiertes Publikum.

Weltreligionen und Kulturen im Dialog

Besonders wichtig für Schmid: Die Möglichkeit zum Dialog zwischen den verschiedenen theologischen Disziplinen, aber auch zwischen den Konfessionen und Religionen. So stand etwa der Dienstag ganz im Zeichen der Schriftkritik in anderen Weltreligionen und Kulturen. Unter anderem ging es dabei um das Textverständnis in der modernen orthodoxen Kirche oder die Auslegung des Korans. Der Kongress war sehr gut besucht, obwohl einige Gäste nur unter stark erschwerten Bedingungen teilnehmen konnten. Sonia Wong, Professorin aus Hong Kong, nahm eine dreiwöchige Quarantäne in Kauf in ihrer Heimat, um drei Tage in Zürich dabei zu sein.

Die Teilnehmenden quittierten dieses Engagement mit lautem Applaus. Wong referierte am Dienstag über den Einfluss postkolonialer Theorien auf die Bibelauslegung. In ihrem Vortrag betonte sie, wie wichtig es sei, die Deutung von den persönlichen Erfahrungen der einzelnen Autoren biblischer Schriften her anzugehen: Diese hätten oft Besetzung und Unterdrückung erlebt. Die Geschichte der Bibelentstehung sei darum eng mit der Geschichte des Imperialismus verknüpft – und dieser Zusammenhang sei ein wichtiger Schlüssel für das richtige Verständnis der Bibel.

Theologen als Botaniker der Religion

Der Auftakt am Sonntagabend fand in der zu Dreivierteln besetzten Fraumünsterkirche statt. Konrad Schmid eröffnete als Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie den Event und stellte gleich zu Beginn klar, warum es wichtig ist, heilige Schriften zu kritisieren und weshalb es einen Kongress zu diesem Thema braucht: Die historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Bibeltext sei so alt wie die Bibel selbst und «ein unabdingbarer Bestandteil der Theologie», und letztere sei schliesslich Voraussetzung für religiöses Verstehen. «Die Theologie verhält sich zur Religion wie die Botanik zu den Pflanzen», sagte er.

Die Pflanze, die die Theologen zerpflücken, die Bibel, ist laut Schmid nicht nur das mit Abstand verbreitetste Buch der Weltliteratur. Das Christentum sei schlicht auch «die grösste und am schnellsten wachsende Weltreligion». Es gelte darum, die Bibel nicht nur inhaltlich zu verstehen sondern eben auch im Licht ihrer über tausendjährigen Entstehungsgeschichte. Eine der wichtigsten Fragen dafür laute: «Haben die Texte in der Bibel etwas zu sagen, weil sie in der Bibel stehen oder stehen sie in der Bibel, weil sie etwas zu sagen haben?»

Ein Theologiestar referiert im Fraumünster

Dann stand mit dem Vortrag von Jörg Lauster auch bereits ein von vielen Teilnehmenden mit Spannung erwartetes erstes Highlight auf dem Programm. Der Münchner Professor gilt als eine Art Star unter den Theologen. Er beherrscht die Kunst, wissenschaftliche Erkenntnisse auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und ist durch verschiedene Bestseller bekannt geworden. 2014 hat er zum Beispiel eine Kulturgeschichte des Christentums veröffentlicht mit dem Titel «Die Verzauberung der Welt».  Seine Biografie des Heiligen Geistes wurde 2021 in den Feuilletons rege besprochen.

Zürich als guter Nährboden für Kritik

Lauster stellte gleich zu Beginn klar, dass Zürich der beste Platz sei, um über die Kritik an Heiligen Schriften zu diskutieren. Zum Beleg zog er einen gewissen David Friedrich Strauss heran. Der war vor 182 Jahren als Professor an die Universität Zürich berufen worden, konnte sein Amt aber nie antreten; die Kirchenoberen bewirkten seine Absetzung und jagten ihn mit einer Pension von 1000 Franken wieder aus der Stadt.

Strauss' Vergehen: Er hatte ein Buch mit dem Titel «Das Leben Jesu, kritisch betrachtet» verfasst. Für Lauster ist es das wichtigste theologische Buch des 19. Jahrhunderts. Und Strauss' Geschichte zeigt für den Münchner Starprofessor auch «das nervöse Verhältnis» zwischen den Hütern der Religion und den Schriftkritikern, die eine historische Brille aufhaben. Schriftkritik kann massive Reaktionen auslösen, ja sie birgt politisches Sprengpotenzial; der sogenannte «Straussenhandel» führte 1839 zum Züriputsch und zur Absetzung der liberalen Zürcher Regierung.

Heiligkeit sorgt für Konfliktstoff

Lauster machte in seinem Vortrag deutlich: Schriftkritik ist ein weites Feld mit einer langen, spannenden Geschichte. Das Spannungsfeld dabei steckt schon im Kongress-Titel; es ist jenes zwischen Heiligkeit und Kritik. Die wesentliche Frage dabei lautet: «Dürfen heilige Schriften überhaupt kritisiert werden?» Lauster sagt: Die Strategie der Religion sei es, sich der Kritik durch Heiligkeit zu entziehen. Was heilig ist, ist kritiklos hinzunehmen und was zu kritisieren sei, könne nicht heilig sein. Aber das Zeitalter der Aufklärung und der Vernunft ist eben auch das Zeitalter der Kritik. Die Disziplin der Schriftkritik bringt diese überlieferten Gleichungen ins Wanken.

Die Lichtfiguren der Schriftkritik

Kompetent lieferte Lauster gleich einen auch für Laien verständlichen Abriss über die Geschichte der historisch-kritischen Methode bei der Bibelauslegung mit. Der Titel seines Vortrags lautete «Licht und Staunen – das uneingelöste Versprechen der historischen Kritik heiliger Schriften.» Die Lichtgestalten und Pioniere, auf die er sich dabei bezog, heissen Semler, Geller und Herder. Johann Salomo Semler etwa sah im 18. Jahrhundert die Kritik als einen «Weg des Verstehens» für den einzelnen, um in Sachen Religion zu einer privaten Überzeugung zu kommen. So können die heiligen Schriften laut Lauster durchaus zu einem «Halt im Leben» und einem «Trost im Sterben» werden.

Wichtig dabei ist aber: Nicht jedes Wort in der Bibel dient der Erbauung, nicht jede Aussage darin ist göttlichen Ursprungs. Johann Gottfried Herder hingegen konzentrierte sich bei seiner Bibelkritik eher auf die literarische Gestalt und den narrativen Gehalt der Bibel. Die Bibel erzählt fantastische Geschichten, die man auf sich beziehen kann, die aber mit der historischen Wahrheit nur wenig zu tun haben. Herder sah den «fiktionalen Mythos» der Evangelien aber als Chance, nicht als Risiko für die Religion. Für Lauster ist klar, dass die historisch-kritische Methode Grossartiges zum Verständnis der Bibel geleistet hat. Die Frage nach dem, was richtig und falsch sei, müsse immer wieder von Neuem gestellt werden.

Kritische Theologie als Mutter aller Wissenschaft

Auch für den Organisator Konrad Schmid war Lausters Eröffnungsvortrag einer der Höhepunkte des Kongresses.  Schmid weist in seiner persönlichen Bilanz aber auch auf die lange Traditionslinie hin, in welcher die Textkritik in Zürich seit 1525 steht: das Ringen um die richtige Übersetzung der überlieferten Texte für die Zwinglibibel, die Diskussionen um das richtige Verständnis in der Predigerschule der Prophezei. Gescheite Männer wie Lavater, Pellikan und Bullinger rangen um Formulierungen und Interpretationen. Und ihre Erkenntnisse strahlten schon damals stark international aus.

Für Schmid ist die kritische Auseinandersetzung mit der Bibel schlicht eine Keimzelle des Intellekts, von der die Stadt Zürich noch heute profitiert. Sie ist für ihn ein Motor kritischen Denkens; sie habe den übrigen Geisteswissenschaften immer wieder Schub verliehen. Schmid ist sich alles andere als sicher, ob es ohne die Textkritik die geistigen Hochburgen wie die Universität oder die ETH überhaupt gäbe in dieser Stadt. «Sonst wäre Zürich vielleicht ein Fischerdorf am unteren Zürichsee geblieben», sagt er. Der 17. Theologiekongress war für den Organisator eine spannende gemeinsame Reise zurück zu den Anfängen des kritischen Denkens. Das zentrale Thema des Kongresses, die Textkritik, betrachtet Schmid als ein lohnendes Unternehmen, das so schnell nicht endet: «Die Bibelauslegung ist ein unendliches Projekt», sagt er.

Die Hauptevents des Kongresses nachträglich ansehen

Die Hauptvorträge des 17. Europäischen Theologiekongresses sind auf der Programmseite als Video abrufbar: www.theologiekongress.uzh.ch
Die einzelnen Tagesthemen dabei lauteten: «Schriftkritik und religiöse Kultur» (Montag), «Schriftkritik im interkulturellen Vergleich» (Dienstag) und «Schriftkritik als theologisches Problem» (Mittwoch). Auch die Eröffnungs- und Schlussveranstaltung sind aufgeschaltet.