Recherche 23. September 2021, von Felix Reich

Was von der Religion übrig bleibt

Philosophie

Peter Sloterdijk braust auf seiner Assoziationsmaschine braust er durch die Geistesgeschichte und betrachtet die Religion mit spöttischer Sympathie.

Der Stargast bleibt sitzen. Im gelehrten Plauderton hält Peter Sloterdijk am 30. August seinen Vortrag an der Universität Zürich. Der reich dekorierte Philosoph und Kulturwissenschaftler, der sich schon fast zu jeder gesellschaftlichen Frage exponiert hat, befasst sich in seinem jüngsten Buch «Den Himmel zum Sprechen bringen» (Suhrkamp, 2020) mit der Religion, was ihm die Einladung der Theologischen Fakultät bescherte.

«Judentum und Christentum versuchen sich in einem Urtext zu stabilisieren, der verloren gegangen ist», sagt Peter Sloterdijk. Mose zerschmetterte das Original der Gesetzestafeln am Berg Sinai aus Wut über das ums Goldene Kalb tanzende Volk (2 Mose 32,19). Die Worte Jesu sind nicht in dessen Muttersprache überliefert, sondern in den vier Evangelien auf Griechisch.

Die Göttermaschine

Sloterdijk attestiert den religiösen Riten, dass sie den «Rätseln eine Form geben», wenn sie schon keine Probleme lösten. Nur hat die Wissenschaft so manches Rätsel gelöst. Im Himmel ist vor lauter Galaxien kein Platz für das Göttliche, die griechische Göttermaschine ist als Theaterrequisit entlarvt. Sie war ein Kran, der den Schauspieler von oben auf die Bühne schweben liess. 

In der Theopoesie nehmen die Menschen auf dem Umweg über Gott mit sich selbst Kontakt auf.
Peter Sloterdijk

Den Götterkran erwähnt Sloter­dijk mit der spöttischen Sympathie, mit der er den Glauben generell betrachtet. Seine Assoziationsmaschine ist jetzt warmgelaufen, auf ihr galoppiert er durch die Jahrtausende. Ihn fasziniert die «Theopoesie»: jene Dichtung, mit der Menschen «auf dem Umweg über Gott mit sich selbst Kontakt aufnehmen».

Die versklavte Religion

Hatten religiöse Gebote einst die Funktion, Gesellschaften zu stabili­sieren, kommen die «Diesseitsprak­tiken», wie Sloterdijk Wissenschaften, Staatswesen oder Bildung nennt, inzwischen ohne Gott aus. Religi­öse Bezüge seien höchstens noch in Demutsfloskeln in Verfassungen oder rituellen Handlungen wie den mit der Bibel in der Hand abgelegten Amtseiden präsent. 

Im besten Fall hat die Religion den Auftrag, die Gesellschaft human zu organisieren, an säkulare Akteure abgegeben. Übrig bleibt von der aus der «Versklavung durch Zuständigkeit für alle Aspekte des sozialen Wesens» befreiten Religion die «Beihilfe zur Auslegung des Daseins». Sie erhellt «das Unverfügbare, domestiziert das Unheimliche».

Die grosse Freiheit

Die befreite, aus der öffentlichen Verantwortung gedrängte Religion bleibt bei Sloterdijk freilich nicht ohne Konkurrenz. Sie teile sich ihr Feld mit der Philosophie und der Kunst, die ihr auf dem Weg in die Zweckfreiheit vorangegangen seien. Auf eine Stufe mit diesen Disziplinen gestellt zu werden, ist beim Philosophen wohl eher als Adelstitel denn als Abklassierung zu lesen. 

Übrig bleibt eine überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit der Religion.
Peter Sloterdijk

Jedenfalls versteht Sloterdijk die radikale Religionsfreiheit als Fortschritt. Das zeigen seine Hinweise auf den politischen Islam oder politisch einflussreiche Evangelikale in den USA, mit denen er seine Erzählung der Aufklärung kontrastiert.

So schön überflüssig wie Musik

Den Gestus des scharfen Religionskritikers hat Sloterdijk abgelegt. In den «Ruinen des Religiösen» findet er vielmehr jene «überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit», die Religion so überflüssig und schön mache wie Musik. In seinem klugen Wortschwall scheinen viele Thesen auf, mit denen sich die Auseinandersetzung lohnt. So könnte die Kirche tatsächlich den viel beklagten Bedeutungsverlust als neue Freiheit begreifen.

Getrost vertrauend und fromm bezeugend, dass die Offenbarung des Evangeliums kein Selbstgespräch ist, sondern in Christus Gestalt gewonnen hat. Dann schrumpfen die Kampfzonen zwischen Säkularen und Gläubigen, weltlichen und re­ligiösen Künsten, solange beide daran arbeiten, «den Himmel anzuzetteln auf Erden», wie Kurt Marti schrieb, dessen 100. Geburtstag Anlass für die Tagung war.