Recherche 24. Juni 2021, von Felix Reich

Heilige Schriften kritisch lesen

Theologie

Der Europäische Theologiekongress will das Gespräch zwischen Kirche und Bibelwissenschaften neu beleben. Prominent besetzte Veranstaltungen beziehen auch Judentum und Islam ein.

Die Bibel ist nicht einfach ein Buch. Sie ist eine Bibliothek, die in 1200 Jahren entstand. Ihre Texte atmen den Geist ihrer Zeit, verarbeiten politische Umbrüche und verwenden  Motive aus überlieferten Mythen, reagieren auf Bedrohungslagen.

Alles Allgemeinwissen? «Nein», sagt der Theologieprofessor Konrad Schmid, der an der Universität Zürich zum Alten Testament forscht. In der kirchlichen Praxis spielten bibelwissenschaftliche Erkenntnisse kaum eine Rolle. «Das führt zu einem naiven Glauben, der nicht unterscheidet zwischen historischen Fakten und religiösen Interpretationen», sagt Schmid und spricht von einer «Aufklärungsverzögerung».

Aufklärung unter Druck

Ob die Lücke bald geschlossen wird, ist ungewiss. Weltweit liegt der historisch-kritische Zugang zur Bibel nicht im Trend. Die Wachstumszonen des Christentums sind charismatisch geprägt. Und in der Theologie hätten befreiungstheologische oder postkoloniale Interpretationen eher Konjunktur, sagt Schmid. 

Die Ferne von der Bibelwissenschaft führt zu einem naiven Glauben.
Konrad Schmid, Theologe

Der Europäische Kongress für Theologie in Zürich will nun mit spannenden und prominent besetzten Veranstaltungen einen Beitrag zur Annäherung von Kirche und Bibelwissenschaften leisten. An der Eröffnung am 5. September nimmt Kirchenratspräsident Michel Müller teil, die Vorträge finden in der Altstadtkirche St. Peter statt.

Das Judentum und die Reformation

Zu den Zugpferden im Programm zählt der Münchner Theologieprofessor Jörg Lauster, der jüngst eine «Biografie über den Heiligen Geist» veröffentlicht hat. Darin legt er Verbindungen frei zwischen Religion, künstlerischem Geniekult und philosophischen Freiheitsideen.

Wer ständig damit beschäftigt ist, herauszufinden, welcher Vers zu welcher Zeit verfasst worden ist, verliert das Ganze aus den Augen.
René Bloch, Judaist

Eine christliche Erfindung ist die historisch-kritische Lesart der heiligen Schriften freilich nicht. Darauf weist René Bloch hin. Der Professor für Judaistik in Bern nimmt am Kongress teil und nennt zum Bespiel den jüdischen Gelehrten Baruch von Spinoza (1632–1677), der als Begründer der modernen Religions- und Bibelkritik gilt.

Zugleich habe die reformatorische Bibelkritik das Judentum stark beeinflusst. «Die Reformatoren haben in dieser Hinsicht grosse Verdienste über das Christentum hinaus.»

Frühe Anmeldung lohnt sich

Der Kongress im St. Peter in Zürich dauert vom 5. bis zum 8. September. Der Eröffnungsabend mit dem Vortrag des Münchner Theologen Jörg Lauster findet im Fraumünster statt. Das Programm richtet sich über die Universität hinaus an Pfarrerinnen und Pfarrer sowie an ein theologisch interessiertes Publikum. Die Teilnahme kostet 150 Franken, wer sich bis zum 17. Juli anmeldet, zahlt 20 Franken weniger. Ein Tageseintritt kostet 38 Franken.

Mittlerweile sei die Bibelkritik im Judentum fest verankert, sagt Bloch. «Die meisten Rabbinerinnen und Rabbiner akzeptieren, dass die Tora keine in sich geschlossene Offenbarung, sondern ein Kanon religiöser Texte unterschiedlicher Autoren ist.» 

Schlicht grossartige Literatur

Der Judaist betont aber, dass die Bibelkritik nicht die einzige Form der Auslegung bleiben dürfe: «Wer ständig damit beschäftigt ist, herauszufinden, welcher Vers zu welcher Zeit verfasst worden ist, verliert das Ganze aus den Augen.» Unabhängig von ihrer Entstehungsgeschichte sei die Bibel doch schlicht «grossartige Literatur».

Ein Urteil, das der Theologe Schmid natürlich teilt. Doch der Einbezug der Entstehungsbedingungen biblischer Texte verstelle den Blick auf den religiösen und ethischen Gehalt nicht, «er erhellt ihn erst». Biblische Metaphern seien oft nur im Kontext ihrer Zeit verständlich. «Um die Paulusbriefe richtig einzuordnen, muss ich wissen, dass sich der Apostel in einer Endzeit wähnte.»

Zeitreise mit dem Koran

Neben dem Judaisten Bloch und Theologinnen und Theologen ist in Zürich auch Ömer Özsoy zu Gast. Der Professor für Koranexegese ist an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main Leiter des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam. Er diagnostiziert eine «Krise der Koranexegese», weil «in den alten Korantext oft moderne Bedeutungen hineinprojiziert werden».

Wer den Koran verstehen wolle, müsse bereit sein, «sich in eine andere Zeit zu versetzen», sagt Özsoy. Über Religionsgrenzen hinweg strebt der Kongress also nach einem «aufgeklärten Umgang mit heiligen Schriften», wie ihn Konrad Schmid unermüdlich einfordert.