Vorerst keine Missbrauchsstudie unter reformierter Regie

Sommersynode

Das Parlament der reformierten Kirche Schweiz will Missbrauchsopfer anhören und unterstützen. Die vom Rat vorgeschlagene Studie für 1,6 Millionen Franken wurde aber abgelehnt.

«Missbrauch hat in unserer Kirche keinen Platz.» Das sagte Rita Famos ganz am Ende der mehrstündigen und engagierten Diskussion über den Umgang der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) mit dem Thema Missbrauch. 

Und EKS-Präsidentin Famos sagte diesen Satz, obschon kurz zuvor eine Mehrheit des Kirchenparlaments ihren Antrag abgelehnt hatte: Der Rat hatte vorgeschlagen, im Namen der EKS für 1,6 Millionen Franken eine Studie in Auftrag zu geben, welche die Missbrauchsproblematik in der reformierten Kirche ausleuchten sollte. 

Aber nicht nur dort: Die Studie wäre als sogenannte «Dunkelfeldstudie» angelegt gewesen. Das heisst, es wären repräsentative 20 000 Menschen befragt worden, unabhängig von ihrem konfessionellen Hintergrund und unabhängig davon, in welchem Umfeld der Missbrauch passiert war. Die Ergebnisse sollten so einen Nutzen für die gesamte Gesellschaft bringen.

Jeder Missbrauch ist Verrat an den Werten der Kirche und am Evangelium.
Judith Pörksen (Bern-Jura-Solothurn)

Dass Rita Famos trotz der Ablehnung der konkret vorgeschlagenen Studie ein so optimistisches Fazit ziehen konnte, liegt daran, dass das Parlament in seiner Grundhaltung klar war: Beim Thema Missbrauch soll hingeschaut werden. Missbrauchsfälle innerhalb der reformierten Strukturen sollen aufgedeckt und Täter sanktioniert werden. «Jeder Missbrauch ist Verrat an den Werten der Kirche und am Evangelium», sagte Judith Pörksen für die reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. 

Die Geister schieden sich aber an der Frage, wie die Kirche Missbrauchsopfern am besten helfen kann. Braucht es dafür wirklich mehr Zahlen und Statistiken, sprich zuerst eine Studie? Oder würde die Kirche das Geld nicht besser in zusätzliche Prävention und Anlaufstellen für Betroffene investieren?

13 Kirchen, ein gemeinsamer Gegenantrag

Die Mitgliedskirchen beider Appenzell, Baselland, Luzern, Nid- und Obwalden, St. Gallen, Schwyz, Thurgau, Tessin, Uri, Zug und Zürich schlossen sich zusammen. Sie schlugen gemeinsam Änderungsanträge vor, die schliesslich eine Mehrheit fanden: Die Synode will, dass sich der EKS-Rat beim Bund für die Durchführung einer gesamtgesellschaftlichen Missbrauchsstudie auf nationaler Ebene zum Thema sexueller Missbrauch und Grenzverletzungen stark macht. Ob eine eigene, innerkirchliche Studie nötig ist, soll zuerst geprüft werden.

Bei den Tätern haben wir einen blinden Fleck.
Esther Straub (Zürich)

«Wir können die Missbrauchsproblematik nicht für die ganze Gesellschaft lösen», begründete die Zürcher Kirchenratspräsidentin Esther Straub den Antrag. Eine solche gesamtgesellschaftliche Untersuchung im Namen der Kirche könne ein falsches Bild vermitteln: Dass vor allem in kirchlichen Strukturen Missbrauch passiere. Viel wichtiger sei es, den Fokus auf die Täter zu legen, die fast ausschliesslich Männer seien. «Bei den Tätern haben wir einen blinden Fleck», sagte Straub. Patriarchale Strukturen, wie sie in der Kirche noch immer vorherrschten, würden Missbrauch begünstigen.

Andere Votanten fanden den Nutzen einer gross angelegten Studie fragwürdig. «Kennen wir alle nicht längst die toxischen Strukturen, in denen Missbrauch möglich ist?», fragte Erhard Jordi für die Zentralschweizer und Tessiner Kirchen. «Eine Dunkelfeldstudie gehört in die Hände des Bundes», fand auch Martin Schmidt (SG). «Wir müssen uns nicht ins Schaufenster stellen und alle Sünden der Welt auf uns nehmen.»

Mit 32 zu 24 Stimmen entschieden sich die Synodalen dagegen eine breit angelegte Studie in Auftrag zu geben. Gleichzeitig sprach sich aber eine Mehrheit dafür aus, bereits begonnene Schutzkonzepte in den Kirchen auszubauen, rasch eine kirchenexterne Meldestelle für Betroffene zu schaffen sowie eine Arbeitsgruppe einzusetzen. 

Die wichtigste Frage muss sein: Was hilft Betroffenen?
Martina Tapernoux (Appenzell)

Diese soll gemeinsam mit Missbrauchsopfern und Fachleuten herausfinden, welche Massnahmen tatsächlich hilfreich sind. Martina Tapernoux (Appenzell) fasste es so zusammen: «Die wichtigste Frage muss sein: Was hilft Betroffenen? Ich glaube nicht, dass es das Erheben von Zahlen und Daten ist.»

«Wir haben mit unseren Anträgen nicht in erster Linie die Missbrauchsstudie beerdigt. Wir haben den Weg frei gemacht, um gemeinsam mit Betroffenen wirklich hilfreiche Massnahmen auszuarbeiten», sagte Christina Aus der Au (Thurgau) nach dem Entscheid gegenüber «reformiert.». Sollte sich in der Arbeitsgruppe zeigen, dass dafür mehr Zahlen und Fakten nötig wären, werde sich sicher niemand einer kircheninternen Aufarbeitung verschliessen.

Für EKS-Präsidentin Rita Famos ist der Auftrag des Kirchenparlaments an den Rat nach diesem Entscheid klar: «Wir richten eine externe Meldestelle ein. Wir beziehen in der Arbeitsgruppe Betroffene und Fachpersonen ein und schauen, was nötig ist, um Missbrauch zu bekämpfen.» 

Damit setze die Kirche ein Zeichen – auch für andere Institutionen. Noch unklar ist für Famos, wann und in welcher Form die EKS beim Bund vorstellig werden wird, um eine nationale Studie zum Thema Missbrauch anzuregen.