In der Schweiz werden jährlich rund 3000 Menschen in sogenannte Administrativhaft genommen, obwohl sie keine Straftat begangen haben. Zur Haft führt ihr Migrationsstatus: Sie wurden alle aus der Schweiz aus- oder weggewiesen. Behandelt werden diese Menschen aber gemäss einem neuen Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (SBAA) oft wie Kriminelle. Und mehr noch: Das Vorgehen der Schweizer Behörden lässt gemäss der Beobachtungsstelle auch Zweifel daran aufkommen, ob die Schweiz sich an ihre eigenen Gesetze hält.
Schwere Vorwürfe zur Administrativhaft in der Schweiz
Ein Bericht erhebt schwere Vorwürfe gegen die Administrativhaft in der Schweiz und stellt entsprechende Forderungen. Das Staatsekretariat für Migration reagiert mit Unverständnis.
Haft ohne Straftat: Die Schweiz hinkt gemäss einem aktuellen Bericht ihren Gesetzen hinterher. (Foto: Unsplash)

Administrativhaft in der Schweiz
Die Haft, um die es hier geht, ist die sogenannte Administrativhaft. Sie ist im «Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und die Integration» (AIG) verankert als Zwangsmassnahme, die von den kantonalen Behörden oder in bestimmten Fällen auch vom Staatssekretariat für Migration (SEM) angeordnet werden kann. Sie beruht also nicht auf einem strafrechtlichen Urteil. Ihr Zweck ist es, eine Ausreise zu erzwingen. Es gibt verschieden Formen der Administrativhaft: kurzfristige Festhaltung, Vorbereitungshaft, Ausschaffungshaft, «kleine» Ausschaffungshaft, Durchsetzungshaft und Dublin-Haft. Allen gemein ist, dass die Haft jeweils gemäss Gesetz verhältnismässig sein muss und nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf, wenn mildere Alternativen nicht genügen, und dass sie keinen strafähnlichen Charakter haben dürfen.
In übermässig vielen Fällen sieht die Beobachtunsstelle die Gesetze verletzt. Und das ist bei Weitem keine Bagatelle: Die Administrativhaft, so die SBAA, «stellt einen tiefgreifenden Eingriff in das verfassungsmässig garantierte Grundrecht auf persönliche Freiheit dar».
Konkret wirft die Beobachtungsstelle den Schweizer Behörden eine ganze Reihe von Vergehen vor. Etwa dauerten die Inhaftierungen oft unverhältnismässig lang, die Administrativhaft würde missbräuchlich als Abschreckung, Präventionsmassnahme oder Strafe eingesetzt, die Rechte Minderjähriger würden verletzt und die psychische und physische Fähigkeit der Betroffenen, eine Haft antreten zu können, nicht überprüft. Zudem mangle es an Sensibilität für die Situation der Betroffenen: «Ein grosser Teil der Inhaftierten leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), die durch die Haftbedingungen verstärkt werden», heisst es im Bericht.
Unsorgfältige Verfahrensführung und gesetzeswidrige Haftbedingungen
Weiter würden die Verfahren unsorgfältig geführt. So berichtet die SBAA davon, dass Inhaftierungen immer wieder mangelhaft oder gar nicht begründet, die Betroffenen nicht oder nur unzureichend über die Haftentscheide informiert und die Inhaftierungen oft schlecht oder gar nicht dokumentiert würden. Es komme auch vor, dass die falsche Haftart angeordnet werde. Zudem würden die in der Bundesverfassung verankerten Verfahrensgarantien verletzt, das heisst die anwaltliche Vertretung der Betroffenen werde nicht gewährleistet oder sogar verhindert.
Weiter prangert die Beobachtungsstelle an, dass die Haftbedingungen oft gesetzeswidrig seien, sprich: Sie ähneln einer Strafhaft. Gemäss dem Ausländergesetz ist die Administrativhaft klar vom Strafvollzug zu trennen und hat grundsätzlich in eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen zu erfolgen. «Die baulichen Elemente und Haftbedingungen müssen so weit wie möglich den Eindruck einer Gefängnisumgebung vermeiden und zum Ausdruck bringen, dass es sich bei den Inhaftierten grundsätzlich nicht um delinquente Personen handelt», schreibt die Beobachtungsstelle. Nur wenige Kantone verfügen gemäss der SBAA aber über spezielle Einrichtungen für die Administrativhaft: Sechs sind es in der ganzen Schweiz. In vielen Fällen erfolgt die Unterbringung in regulären Gefängnissen.
Grundsätzlich bemängelt die Beobachtungsstelle, dass die Maximaldauer der Administrativhaft mit eineinhalb Jahren zu lang sei und dass die im Gesetz verankerten, möglichen milderen Alternativen zur Administrativhaft – etwa eine Meldepflicht – kaum berücksichtigt würden. Die Beobachtungsstelle beanstandet auch die unterschiedliche Handhabung der Administrativhaft in den einzelnen Kantonen sowie die hohen Kosten der aktuellen Praxis.
Zehn Forderungen für eine Verbesserung
Die SBAA stellt in der Folge zehn Forderungen auf, mit denen die Missstände behoben werden sollen. Etwa solle die kantonale Praxis durch klare Vorgaben des Staatssekretariats für Migration dahingehend vereinheitlicht werden, wann eine Administrativhaft verhältnismässig und rechtlich zulässig sei. Die maximale Haftdauer sei auf sechs Monate zu beschränken. Haftalternativen müssten ausgebaut und neue Formen geprüft werden. Gefordert wird auch eine Schulung der Mitarbeitenden der Migrationsbehörden und die konsequente Trennung von Administrativ- und Strafhaft.
Die Forderungen der SBAA im Detail
Die SBAA stellt folgende zehn Forderungen an die Schweizer Behörden, “um eine humane und grundrechtskonforme Anwendung der Administrativhaft zu gewährleisten”, wie es im Bericht heisst:
- Nationales Verbot der Administrativhaft für Minderjährige und gängiger kantonaler Praktiken, die dem übergeordneten Kindesinteresse abträglich sind.
- Harmonisierung der kantonalen Praxis durch klare Vorgaben des SEM an die Kantone, wann eine Administrativhaft verhältnismässig und rechtlich zulässig ist.
- Automatische gerichtliche Überprüfung der Dublin-Haft, um eine einheitliche Handhabung zwischen den verschiedenen Haftarten und die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu gewährleisten.
- Beurteilung der Gefahr des Untertauchens sowohl bei der Ausschaffungshaft als auch bei der Dublin-Haft auf der Grundlage einer spezifischen Prüfung und Begründung im Einzelfall. Die Behörden müssen für dieses Erfordernis sowie für den Vorrang der freiwilligen Rückkehr sensibilisiert werden.
- Verkürzung der maximal zulässigen Dauer der Administrativhaft auf sechs Monate. In Fällen ungeklärter Identität und/oder fehlender Rückübernahmeabkommen mit dem betreffenden Herkunftsstaat ist auf eine Inhaftierung zu verzichten.
- Um auf absehbare Zeit eine vollständige Loslösung von der Administrativhaft zu ermöglichen, muss der Ausbau von Haftalternativen priorisiert werden. Insbesondere ist die Anwendbarkeit des «Case Managements» in einem Pilotprojekt zu prüfen, um einen humanen, kostensparenden und rechtskonformen Wegweisungsvollzug zu etablieren.
- Gewährung einer unentgeltlichen Rechtsvertretung ab der ersten Haftprüfung für alle Haftarten bei fehlenden finanziellen Mitteln. Darüber hinaus wird eine systematische Erhebung der Zahlen bezüglich Haftüberprüfungen gefordert, um allfällige weitere Lücken im Rechtsschutz der Betroffenen erkennen zu können.
- Einführung eines gesamtschweizerischen zentralen Haftregisters, um eine lückenlose und exakte Dokumentation aller Inhaftierungen zu gewährleisten.
- Adäquate Instruktion und Schulung der Mitarbeitenden der Migrationsbehörden durch die Kantone, um die Einhaltung geltender rechtsstaatlicher Grundsätze sicherzustellen.
- Konsequente rechtskonforme Umsetzung des Trennungsgebotes in den besonderen Hafteinrichtungen für die Administrativhaft durch konkrete Vorgaben des SEM an die Kantone und weitestgehende Vermeidung des Vollzugs ausländerrechtlicher Haft in regulären Gefängnissen. Die Zahlen über die Unterbringung in regulären Gefängnissen sind zentral beim SEM zu erheben, um ein dringend notwendiges Monitoring zu ermöglichen.
SEM weist Vorwürfe zurück
Das Staatssekretariat nimmt auf Anfrage Stellung zur Studie: «Aus Sicht des SEM sind die Vorwürfe der SBAA nicht nachvollziehbar. Ihre Forderungen sind durch die bestehenden Gesetzesbestimmungen sowie die aktuelle Praxis bereits mehrheitlich erfüllt.» In vielen Punkten verweist es auf bestehende Gesetze und darauf, dass diese in Einklang mit übergeordneten Bestimmungen (Schengen/Dublin) übereinstimmten. Auch sei die Dokumentation der Haftfälle gewährleistet.
Das Staatssekretariat betont zudem, dass die Anordnung, die Prüfung und der Vollzug einer ausländerrechtlichen Administrativhaft in die Zuständigkeit der Kantone falle und diese einen Ermessensspielraum hätten, innerhalb dessen sie ihren Auftrag zum Vollzug der Administrativhaft erfüllen müssten. «Unterschiede zwischen den Kantonen können deshalb nicht gänzlich ausgeschlossen werden», schreibt das SEM. Es liege aber im Interesse des Bundes, eine Harmonisierung im Bereich der Zwangsmassnahmen zu unterstützen. So fänden etwa Fachtagungen oder -schulungen statt.
Verbesserungen gemäss SEM erfolgt und im Gang
Zum Ort des Haftvollzugs sagt das Staatssekretariat, im Rahmen der regelmässig stattfindenden Schengen-Evaluierung im Jahr 2018 sei der Schweiz empfohlen worden, Massnahmen zu ergreifen, um die Administrativhaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen zu vollziehen. Daraufhin sei im Ausländergesetz die bereits bestehende Bestimmung so präzisiert worden, dass die Kantone gesetzlich verpflichtet seien, die Administrativhaft getrennt von der Strafhaft zu vollziehen. Die Kantone hätten in den letzten Jahren die geforderte Trennung massgeblich vorangetrieben und grosse Fortschritte erzielt, wobei laufend Verbesserungen hinzukämen, schreibt das SEM.