Der Verlust einer christlichen Enklave

Diplomatie

Rita Famos wurde Zeugin des eskalierenden Konflikts um Nagorni Karabach. Die Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz fordert eine diplomatische Friedensoffensive.

Eigentlich wollte der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) ein Zeichen gegen das Vergessen setzen, aber seine Delegation wurde Zeugin einer Eskalation. Nach Armenien gereist war sie, um auf die humanitäre Katastrophe aufmerksam zu machen, die in Nagorni Karabach drohte.

Schutzlos ausgeliefert

Aserbaidschan hatte die Zufahrt für Hilfslieferungen blockiert, die armenische Exklave drohte zu verhungern. Mit einer Militäroperation, die am 19. September begann und nur 24 Stunden dauerte, schuf das hochgerüstete Regime Fakten und brachte Nagorni Karabach vollständig unter Kontrolle, entwaffnete die Separatisten. Bereits im Frühling hatte sich Armenien mit dem Verlust des Gebiets abfinden müssen, ohne Sicherheitsgarantien für die Bevölkerung zu erhalten.

Zur Delegation des ÖRK gehörte auch Rita Famos. Die Pfarrerin ist Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Die Fahrt von der armenischen Hauptstadt Erewan aus in die Krisenregion mussten die Kirchenvertreter abbrechen, als der Angriff der aserbaidschanischen Armee begann.

Die Macht der Türkei

In Gesprächen spürte Famos «eine grosse Resignation». Die Armenier hätten das Gefühl, dass sie von der Weltgemeinschaft vergessen worden seien. Tatsächlich scheint die Bedrohungslage weiterhin akut. Der aserbaidschanische Staatschef Ilham Alijew spricht gern von «West-Aserbaidschan» statt von Armenien. Zu seinen Forderungen zählt auch ein exterritorialer Korridor, der sich über Nachitschewan bis zur türkischen Grenze erstrecken soll. Mit Unterstützung des türkischen Präsidenten Recep Erdogan setzt er so  Armenien seit Jahren unter Druck.

EKS-Rat fordert diplomatische Offensive

Am 14. Mai 2024 forderte der Rat der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) das Aussendepartement dazu auf, sich für die Sicherheit Armeniens zu engagieren. Dazu nutzen soll die Schweiz ihr Mandat im Sicherheitsrat der Uno. Armenien sei unter verstärktem Druck, weil Aserbeidschan seiner Forderung nach einem Korridor im Süden Nachdruck verliehen habe und damit eine erneute kriegerische Auseinandersetzung drohe.

Gerade in dieser prekären Lage sei die Reise des ÖRK wichtig gewesen, sagt Famos. «Das Zeichen der Solidarität, das die Kirchengemeinschaft ausgesendet hat, wurde sehr geschätzt.» Die ökumenische Delegation traf sich auch mit dem Patriarchen Karekin II. zu Gesprächen. Er ist das Oberhaupt der Armenischen Apostolischen Kirche, die zu den ältesten Staatskirchen zählt. 

Berührendes Abendgebet

Famos berichtet von einem «sehr berührenden Abendgebet» im Noravank-Kloster nahe der Stadt Jeghegnadsor am Tag vor dem Angriff auf Nagorni Karabach. Die Verbundenheit im Gebet und die humanitäre Hilfe der kirchlichen Hilfswerke seien für die Armenier existenziell.

Das kleine Land steht vor riesigen Herausforderungen. Mit dem aserbaidschanischen Einmarsch begann eine grosse Fluchtbewegung. Bisher verliessen rund 85 000 Menschen ihre Heimat. Experten gehen davon aus, dass bald keine Armenier mehr in Nagorni Karabach leben werden. Laut offiziellen Angaben gab es vor der jüngsten Eskalation 120 000 Armenier in der Exklave.

Das gemeinsame Erbe

Die Bereitschaft der Armenier, die Flüchtlinge aufzunehmen, sei riesig, sagt Famos. «Auch die Solidarität der Diaspora ist eindrücklich.» Armenien hat knapp drei Millionen Einwohner, neun Millionen Landsleute leben im Ausland.

Obwohl vor allem die Christen aus Nagorni Karabach flüchten, spricht die EKS-Präsidentin nicht von einer Christenverfolgung. Der Konflikt zwischen dem muslimisch geprägten Aserbaidschan und Armenien, das mehrheitlich von Christen bewohnt wird, habe zwar eine religiöse Komponente, «doch es gibt auch handfeste politische und wirtschaftliche Interessen im Konflikt». Der Grenzverlauf war bereits umstritten, als Aserbaidschan und Armenien noch zur Sowjetunion gehörten. Auf beiden Seiten kam es seit dem Zerfall des sozialistischen Riesenreichs zu Vertreibungen.

Ethnische Säuberungen

Die Organisation Christian Solidarity International kritisiert, dass die Armenier aus Nagorni Karabach «für Öl, Gas und einen vorübergehenden strategischen Vorteil» geopfert würden. Auch Famos betont, dass armenische Christen Opfer von ethnischen Säuberungen wurden. Zudem zerstöre Aserbaidschan «systematisch Klöster und Friedhöfe». Der Verlust des Kulturguts sei besonders schmerzhaft, da es noch aus der Zeit vor allen Kirchenspaltungen stammt. Diese uralten Kirchen und Klöster seien «unser gemeinsames Erbe», sagt Famos.

Die EKS-Präsidentin will nun das Gespräch suchen mit dem Aussendepartement, das mit der Abteilung Frieden und Menschenrechte in der Region präsent ist. Ein besonders starkes Engagement für eine friedliche und gerechte Lösung des Konflikts sowie den Schutz der armenischen Interessen erwartet Famos auch, weil die Schweiz noch bis Ende nächsten Jahres Mitglied im UNO-Sicherheitsrat ist.