Die Mail kam überraschend. Der Fotograf Gustavo Alàbiso informierte Ruth-Nunzia Preisig über seine Ausstellung «Immagina Riesi», die gerade in Berlin gastiert und bald in die Schweiz kommen sollte. Das Thema: der Servizio Cristiano, ein Sozialwerk der Waldenserkirche auf dem Monte degli Ulivi am Eingang des sizilianischen Dorfes Riesi. «Ich freute mich riesig darüber», erzählt Preisig, «dass das Wirken von Riesi bis in die Schweiz ausstrahlt. Vielleicht macht die Ausstellung ja auch Halt in Graubünden?»
Ausbruch aus der Enge
Vor einem Espresso im Bistro des Kulturpunkt am Rande der Churer Altstadt wirft Preisig einen Blick zurück: «Es war Anfang 80er-Jahre. Mein damaliger Ehemann und ich entschieden uns für einen freiwilligen Einsatz im Waldenserprojekt Servizio Cristiano in Riesi.»
Nunzia, wie die meisten sie nennen, ist als Ruth in einer vierköpfigen Familie aufgewachsen. Der Vater arbeitete als Gemeindeverwalter, die Mutter war gelernte Köchin. Preisig erzählt, wie sie manchmal unter der Enge des Familienlebens gelitten habe. So musste sie ihre schwarzen Locken stets bändigen. «Bloss nicht auffallen»: So beschreibt sie den Familienalltag. Er spiegelte die damalige Atmosphäre in der Gesellschaft wider. Eine Zeit, in der die Behörden Kinder willkürlich fremdplatzierten oder Aussenseiter in psychiatrische Kliniken steckten, damit sie «brauchbare» Bürger würden.
Ruth absolvierte eine Ausbildung als Kindergärtnerin und heiratete den Sohn einer Pfarrersfamilie. «Irgendwie spürte ich aber, dass mein Leben in eine Richtung ging, die mir nicht entsprach.»
Riesi war ein Kulturschock
Heiss, arm und voller Düfte. Vom ersten Tag an arbeiteten Nunzia und ihr Mann im Servizio Cristiano mit. Sie im nach modernen pädagogischen Ansätzen betriebenen Kindergarten, er in der Berufsschule und im technischen Dienst. Der Waldenser Pfarrer Tullio Vinay setzte 1961 in Riesi seine Vision eines Ortes um für die Kinder des von der Mafia unterdrückten sizilianischen Hinterlands. Sie sollten eine Zukunft erhalten. Nebst der Grundschule gab es eine Berufsschule für Mechaniker. Zum Betrieb gehören eine Familienberatungsstelle, ein Zentrum für Landwirtschaft und Viehzucht sowie ein Kulturzentrum. Heute betreut der Servizio Cristiano insgesamt 150 Kinder.
Traum erfüllt
In Riesi blühte Ruth auf. «Ich explodierte innerlich richtiggehend.» Dazu beigetragen hätten nicht zuletzt auch die Vulkaninseln Siziliens, sagt sie und lacht. Eine Sprache zu lernen, empfand sie als Horizonterweiterung. «Das Malen mit den Kindern war auch möglich, wenn sie mich sprachlich nicht verstanden.» Dabei habe sie die Malerei als Ausdrucksform für sich entdeckt. Trotz der vielen Arbeit fühlte sie sich in Riesi richtig frei. Sie besucht politische Kundgebungen, sie tanzt, singt im Kreise der Freundinnen und Freunde von Riesi und entscheidet sich für einen neuen Namen. «Ruth klang so hart in dieser Umgebung», sagt sie. Aus Ruth wurde Ruth-Nunzia, abgeleitet aus dem italienischen Annunziata (verkündigen), dessen Wortklang sie verzauberte.
Bruch nach der Rückkehr
Nach ihrer Rückkehr verkündet Ruth-Nunzia ihrer Familie, dass sie sich scheiden lasse. Sie folgt damit einer Intuition, nicht unbedingt dem Herzen. «Die Trennung war schmerzlich. Aber die Kraft, die mir der Aufenthalt in Riesi gab, stärkte meine Zuversicht.» Sie bezog eine Wohnung in der Churer Altstadt, gründete eine Wohngemeinschaft und erfüllte sich einen Traum: ein eigenes Malatelier. 38 Jahre lebte sie dort, später mit Partner und Kindern. Riesi und die in jener Zeit entstandenen Freundschaften sind Teil ihres Lebens geblieben. Heute wohnt sie mit ihrem Partner in einer Clusterwohnung. Sie teilen sich Wohnzimmer und Küchenraum mit zwei Frauen und zwei Männern. Nunzia tritt auf die Terrasse des Kulturpunkt, des neuen interkulturellen Begegnungsorts, an dessen Gründung sie massgeblich beteiligt war. «Für mich schliesst sich jetzt hier an diesem neuen Ort nach 40 Jahren ein Kreis.»