Recherche 09. November 2022, von Felix Reich

«Die Empörungsmaschinerie kommt mir verlogen vor»

Sport

Andreas Mösli ist Kommunikationschef des FC Winterthur. Vor dem Start der Weltmeisterschaften spricht er mit «reformiert.» über Fussball, Moral und Katar.

Freuen Sie sich auf die WM in Katar?

Andreas Mösli: Nein. Aber verfolgen werde ich die Spiele trotzdem. Ich schaue einfach gerne Fussball, egal ob einen Seniorenmatch oder ein Spiel der Schweizer Nationalmannschaft. Und wenn die Schweizer dann weit kommen, freue ich mich auch.

Und haben dabei ein schlechtes Gewissen?

Bestimmt nicht. Warum auch? Ich habe die WM ja nicht nach Katar vergeben.

Weshalb kommt trotzdem keine Vorfreude auf?

Angesichts der Menschenrechtsverletzungen und der Arbeitsbedingungen in Katar habe ich schon ein ungutes Gefühl. Allerdings ist diese WM nicht die erste, mit der uns unwohl sein sollte. 2018 schritt Wladimir Putin bei der Pokalübergabe über den Rasen. Ich persönlich merkte als jugendlicher Fussballfan erstmals 1978, dass die Welt trotz schöner TV-Bilder nicht so toll und der Fussball verpolitisiert ist. Damals fand die WM in Argentinien statt, das von einer Militärjunta regiert wurde. Während unsere Idole mit packenden Fussballduellen unterhielten, wurden nebenan kritische Menschen gefoltert und getötet. Aber niemand hat etwas gesagt. 

Die Empörung über Katar als Austragungsort ist nun enorm. Ein Fortschritt?

Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen weisen schon lange glaubwürdig auf Missstände hin. Die Benachteiligung der Frauen in streng islamischen Ländern ist auch bekannt. Aber die ganze Empörungsmaschinerie kommt mir verlogen vor. Sie ist ja erst richtig angelaufen, als die Fifa die WM in den Winter verlegt hat. Und das kann nun wirklich kein Grund für die Empörung sein. Die Welt ist rund, immer ist irgendwo Winter.

Die Skandalisierung der WM ist also purer Eurozentrismus?

Das spielt sicher eine Rolle. Auch in den USA sind die Arbeitsbedingungen in vielen Bereichen prekär. Die olympischen Spiele fanden in China statt, die letzte WM in Russland. Dort ist die Situation nicht viel besser als in Katar. Ich habe deshalb den Verdacht, dass die Kritik jetzt besonders laut ist, weil es sich um einen Staat aus der islamischen Welt handelt. Den Islam – und damit meine ich die Auslegung und Umsetzung in der Praxis, also die Religion als politische Unterdrückungswaffe – kann man zurecht kritisieren, aber oft verbirgt sich dahinter auch eine Islamfeindlichkeit. 

Andreas Mösli

Seit 20 Jahren arbeitet Andreas Mösli für den FC Winterthur, der auf diese Saison hin in die höchste Liga des Schweizer Fussballs aufgestiegen ist. Lange Zeit war Mösli Geschäftsführer, heute ist er Kommunikationschef des Vereins. Der frühere Journalist ist Mitglied der Bands Ear und Catbird.

Sie finden den Protest gegen die WM in Katar scheinheilig? 

Ich stelle einfach fest, dass mit ungleichen Ellen gemessen wird. Zahlreiche Unternehmen und Regierungen machen Geschäfte mit Staaten wie Katar, und niemand ist empört. 

Aber dass Staaten wie Katar oder Saudi-Arabien, welche die Menschenrechte mit Füssen treten, den Fussball als Bühne entdeckt haben, ist doch eine Tatsache. 

Natürlich. Dass Diktatoren, Oligarchen oder selbstherrliche Präsidenten den Fussball dazu missbrauchen, das eigene Image aufzupolieren, ist leider nicht neu. Und bestimmt öffnen sich den Investoren auch Türen für andere Geschäfte. Aber der Fussball ist hier nur Mittel zum Zweck. 

Der Fussballweltverband Fifa hat bisher nicht wirklich viel getan, um diese Instrumentalisierung zu verhindern. 

Die Fifa muss ihre Vergabekriterien anpassen, transparenter und demokratischer werden. Nachhaltigkeit und Menschenrechte müssen ernsthaft berücksichtigt werden. Aber auch hier sollten wir unseren Eurozentrismus überwinden. Ich kenne Leute aus dem arabischen Raum, die sich extrem auf die WM freuen, weil sie in ihrer Nähe stattfindet. Dass Katar keine Fussballtradition habe, ist für mich kein Argument gegen die WM. Die Fifa hat ja immer deklariert, dass sie den Fussball weiterverbreiten will. Dass die WM von 2006 in Deutschland gekauft war, hat übrigens kaum jemanden gekümmert. Diese selektive Empörung stört mich.

Der FC Winterthur versucht seit vielen Jahren, in seinem Einflussbereich Gegensteuer zu geben. Kann das gelingen?

Als Fussballverein auf Werte wie Toleranz, Diversität und Gerechtigkeit zu setzen, ist wichtig und eigentlich naheliegend. Ohne solche Werte kann ein Team nicht funktionieren. Wir machen aber keine Parteipolitik. Der Fussball ist die Welt im Kleinformat, in der man alles findet: Solche, die sich mit diesen Werten identifizieren, und solche, die sich über unsere Aktionen lustig machen. Oder solche, denen es einfach egal ist. Wir sind nicht missionarisch, sondern wollen die Menschen immer überzeugen von unseren Ideen. Wenn uns das nicht gelingt, suchen wir einen neuen Weg.

Wenn der französische Starstürmer Kylian Mbappé einen Lachkrampf kriegt, weil ihm ein Journalist vorschlägt, kurze Strecken zum Auswärtsspiel im Zug statt im Flugzeug zurückzulegen: Fällt der Imageschaden auch auf einen Verein wie den FC Winterthur zurück?

Ich habe mich aufgeregt über diese Reaktion. Aber auch da: Es gibt wohl unzählige privilegierte Menschen, die in einer Blase leben und ähnlich reagieren würden. Tut es ein Fussballer, fühlen sich die Leute gleich in ihren Vorurteilen bestätigt und meinen, alle Fussballer seien so. Dabei gibt es viele Fussballer, die sehr verantwortungsvoll mit ihrem Einkommen umgehen und ganze Sippen ernähren oder Stiftungen in ihren Heimatländern gründen. In den grossen Fussballligen ist einfach sehr viel Geld vorhanden. Dass die Spieler etwas davon abkriegen, ist eigentlich nur fair. Wenn sie sich verletzen oder versagen, sind sie schnell weg vom Fenster. Im Gegensatz zu vielen Managern in der Wirtschaft, die auch noch abkassieren, wenn sie Fehler gemacht haben.

Wird der Fussball mit zu viel Geld vollgepumpt?

Sicher tut es nicht allen gut, so jung derart viel Geld zu verdienen. Aber auch da bin ich vorsichtig mit Urteilen. Die moralische Frage, wann ein Lohn unanständig hoch ist, müssen wir gesamtgesellschaftlich beantworten und dürfen sie nicht auf den Fussball reduzieren. Zudem profitieren am Ende auch Vereine wie der FC Winterthur vom Geldsegen. Die Fifa verteilt die Gelder, die sie einnimmt, an die Verbände. Das ist eigentlich ein gutes System. Was es dringend braucht, ist eine echte Demokratisierung der Fifa.

Der Fussball ist weder besser noch schlechter als die übrige Welt?

Jedenfalls liegen die Wurzeln der negativen Auswüchse, die dem Fussball angekreidet werden, in unserem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System. Da müssen wir uns alle an der Nase nehmen. Vielleicht sehnen sich die Leute halt nach einer heilen Welt.

Und hoffen, sie im Fussball zu finden?

Genau. Und wenn sie dann merken, dass auch der Fussball keine heile Welt ist, sind sie umso empörter.