Schwerpunkt 09. November 2022, von Nadja Ehrbar, Felix Reich

«Ich schaue etwas neidisch auf andere Länder»

Sport

Es sei eine Schande, dass die Fussball-Weltmeisterschaft in Katar auf dem Rücken ausgebeuteter Arbeitsmigranten ausgetragen werde, sagt Lisa Salza von Amnesty International.

Werden Sie die Schweizer Spiele an der WM in Katar schauen, die am 20. November beginnt?

Lisa Salza: Ich schaue gern Fussball und möchte auch diese Spiele mitverfolgen. Doch wenn sie während der Arbeitszeit stattfinden oder ich an ein Podium eingeladen bin, wie das beim Spiel gegen Brasilien der Fall ist, ziehe ich es vor, mich für die Menschenrechte zu engagieren.

Schauen Sie die Spiele mit gutem Gewissen?

Es ist eine Schande, dass diese WM auf dem Rücken ausgebeuteter Arbeitsmigranten ausgetragen wird. Da ich aber über die Missstände im Gastgeberland aufkläre und Fans etwa dazu auffordere, eine Petition an die Fifa zu unterschreiben, hoffe ich, etwas bewirken zu können.

Wie steht es um die Menschenrechte im reichsten Land der Welt?

Die Arbeitsmigrantinnen sind stark von Diskriminierung betroffen. Es sind meist Menschen aus Ländern Südostasiens und Westafrikas, die auf der Suche nach einem Einkommen für ihre Familien nach Katar gehen und sich dort in einem Teufelskreis aus Ausbeutung und ungleicher Machtverhältnisse wiederfinden. Das Kafala-System öffnet Tür und Tor für Missbrauch.

Lisa Salza

Lisa Salza

Lisa Salza ist seit 2014 Länderverantwortliche bei Amnesty International Schweiz. Sie befasst sich seit 2016 mit dem Thema Sport und Menschen­rechte und hat in diesem Bereich bereits mehrere Kampagnen geleitet, etwa bei den Olympischen Spielen 2016 in Brasilien, der Fussball-Weltmeis­terschaft 2018 in Russland – und nun bei der WM 2022 in Katar.

Was ist das Kafala-System?

Dieses System ist in den arabischen Golfstaaten weit verbreitet. Die Arbeitgeber bürgen für die Gastarbeiter und sind zuständig für deren Aufenthaltserlaubnis. Bei der Einreise müssen sie den Pass abgeben und erhalten diesen oft nicht zurück, was sie vom Arbeitgeber abhängig macht. Bis vor Kurzem durften Arbeitsmigrantinnen die Stelle nur mit der Erlaubnis ihres Arbeitgebers wechseln. Im Gegensatz zu den Einheimischen dürfen sie sich auch nicht in einer Gewerkschaft zusammenschliessen.

Hat die Regierung in Katar das System nicht abgeschafft?

2020 hat sie die problematischsten Elemente aus dem Gesetz gestrichen, etwa die Ausreisebewilligung und die Unbedenklichkeitsbescheinigung, die jemand vom Arbeitgeber benötigte, um den Job zu wechseln. Doch es gibt Schlupflöcher, die es erlauben, die Reformen zu umgehen. Und zudem weitere Herausforderungen für die Menschenrechte.

Welche?

Frauen sind in vielen Belangen benachteiligt und für wegweisende Entscheide, etwa wenn sie im Ausland studieren wollen, vom Goodwill eines männlichen Vormunds abhängig. Für gleichgeschlechtliche Beziehungen gibt es mehrjährige Gefängnisstrafen. Auch die Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit ist eingeschränkt. 

Umstrittener Austragungsort

Die Fussballweltmeisterschaften in Katar, die am 20. November mit dem Spiel des Gastgebers gegen Ecuador beginnen und am 18. Dezember mit dem Finale enden, wurden im Dezember 2010 bei einem Fifa-Kongress in Zürich an den arabischen Kleinstaat vergeben. Mitbewerber waren Australien, Japan und Südkorea sowie die USA. Der Entscheid soll von Bestechung beeinflusst worden zu sein, allerdings war Katar vermutlich nicht der einzige Bewerber, der Geschenke verteilte. Erst relativ spät wurde Kritik an der Menschenrechtslage in Katar laut. Weil es im Sommer zu heiss ist, verlegte die Fifa die Weltmeisterschaften nachträglich in den europäischen Winter.

Wie sehen Sie die Rolle der Fifa? Ist sie die richtige Adressatin für Ihre Forderungen? Um Menschenrechte sollten sich eigentlich politische Organisationen kümmern. 

Die WM ist für die Fifa sehr lukrativ. Gemäss den UNO-Richtlinien für Wirtschaft und Menschenrechte müssen kommerziell tätige Sportverbände sicherstellen, dass durch ihre Aktivitäten keine Menschenrechte verletzt werden. Trotzdem waren die Menschenrechtsrisiken bei der Vergabe kein Thema, obwohl es genügend Hinweise dafür gab, dass das Kafala-System zur Ausbeutung von Arbeitsmigranten führt. Erst 2017 führte der Verband erste Massnahmen ein, erliess zum Beispiel Menschenrechtskriterien für künftige WM-Vergaben. Bedauerlich ist, dass die Fifa erst auf öffentlichen Druck hin reagiert hat. 

Es fragt sich, wie nachhaltig erzielte Verbesserungen dann sind. 

Die Fifa und Katar haben ein Nachhaltigkeitsabkommen getroffen. Das ist begrüssenswert. Jedoch stellt sich die Frage, wie gross der Wille sein wird, Reformen umzusetzen, wenn der öffentliche Druck dann nach dem Turnier wieder abnimmt. Zu den Initiativen, die den Arbeitsmigrantinnen und -migranten am Herzen liegen, wie ein «migrant workers center», in dem sie sich über ihre Rechte informieren können, hat sich Katar bisher nicht bekannt. Auch zu den geforderten Entschädigungszahlungen haben sich die Verantwortlichen nicht geäussert. 

Wie sieht es beim Schweizerischen Fussballverband (SFV) aus? Dieser hat sich, anders als etwa der deutsche Verband, eher zurückhaltend kritisch zur WM geäussert. 

Es besteht zwar die Bereitschaft, sich mit uns auszutauschen, und der SFV ist sich seit unserem ersten Treffen vor zwei Jahren heute sicherlich stärker seiner Verantwortung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht bewusst. Aber es gibt noch Luft nach oben.

Was tut der SFV konkret? 

Er ist Teil der Uefa-Arbeitsgruppe für Menschenrechte und reiste mehrmals nach Katar, um sich mit den Verantwortlichen für die WM-Projekte sowie Gewerkschaften und Arbeitsmigranten auszutauschen. Bei der Wahl des Hotels hat er eigene Abklärungen getroffen, um herauszufinden, ob Angestellte ausgebeutet werden. Diese Massnahmen sind positiv zu werten. 

Müsste er noch mehr tun? 

Was fehlt, ist ein eigenes Regelwerk für Menschenrechte, wie es die Fifa, aber auch der Deutsche Fussballbund haben, um künftig einen Leitfaden für das Vorgehen bei Menschenrechtsrisiken zu haben. Und um sich daran zu orientieren, wie die Verbandsorgane sich gegenüber der Fifa, Sponsoren und anderen Akteuren positionieren wollen. 

SFV hofft auf Dialog

Der Schweizerische Fussballverband (SFV) hat sich im Oktober 2020 «für den Dialog und gegen einen Boykott» entschieden, wie es in einer Mittei-­ lung heisst. Trotzdem will er sich «aktiv für die Arbeiterrechte in Katar einsetzen». Die Mannschaft werde zu diesem Thema regelmässig informiert, sagt SFV-Kommunikationsleiter Adrian Arnold. Spieler seien frei, sich zum Thema zu äussern. Bisher habe dies aber nur Manuel Akanji auch gewollt.

Anders als die Fifa hat sich der SFV öffentlich hinter die Entschädigungs­forderung von Amnesty International gestellt. Todesfälle und andere Schäden müssten aber juristisch abgeklärt werden, fordert der SFV. Ein eigenes Re­gelwerk will der Verband nicht aufstellen, er stützt sich auf die Leitsätze der OECD, die auch für die Fifa gelten.

Die Hauptdarsteller der WM sind die Spieler. Sollten sich auch die Fussballer zur Menschenrechtslage in Katar äussern?

Um politischen Druck aufzubauen, braucht es Protest auf verschiedenen Ebenen. Wenn Fussballspieler mit ihrer enormen Reichweite sich zu Menschenrechten positionieren, kann dies in Ergänzung zum Engagement von Fangruppierungen und Sponsoren bei der Fifa durchaus ein Umdenken anregen.

Haben Sie Spieler kontaktiert, damit diese beispielsweise Bekenntnisse zu den Menschenrechten auf Social Media posten?

Wir haben dies bei früheren Sportkampagnen versucht, und es war sehr schwierig, aktive Spieler zu einem Engagement zu bewegen. Da schaue ich etwas neidisch auf andere Länder, wo sich Athletinnen öffentlichkeitswirksam engagieren.

Was halten Sie davon, dass einige Mannschaftskapitäne eine farbige Binde mit der Aufschrift «One Love» tragen werden, aber die bekannte Regenbogenbinde meiden?

Dass sie für Vielfalt und gegen Diskriminierung einstehen, ist eine schöne Geste. Aber es ist ein Zugeständnis an Katar, nicht die offiziellen Regenbogenfarben der LGBTIQ*-Gemeinschaft zu tragen. Die Spieler sind sich ihrer öffentlichen Plattform bewusst, sie entscheiden, wofür sie diese nutzen.