Dass der 68-jährige Berner, der gerne Frauenkleider trägt, nun eine Selbsthilfegruppe gründet, konnte man kürzlich in einer Pendlerzeitung lesen. Der Mann will sich mit Gleichgesinnten darüber austauschen, was es bedeutet, mit dem Phänomen «Crossdressing» zu leben. Noch stehe die Entwicklung dieser Gruppe ganz am Anfang, meint Daniela Baumgartner vom Beratungszentrum Bern von Selbsthilfe BE. «Aber wir unterstützen auch dieses Anliegen mit unserer Fachkompetenz und unseren Erfahrungen.»
Gleichbetroffene geben sich Kraft: Selbsthilfegruppen boomen
Wenn Menschen mit physischen, psychischen oder sozialen Herausforderungen sich gegenseitig unterstützen, gewinnen alle: die Betroffenen, das Gesundheitssystem, die Gesellschaft.
Die Stiftung Selbsthilfe Schweiz
Schweizweit existieren etwa 2800 Selbsthilfegruppen zu über 300 Themen. Rund 45'000 Menschen nehmen regelmässig an Treffen teil. 22 Regionale Selbsthilfezentren koordinieren und begleiten die Gruppen. Die Stiftung «Selbsthilfe Schweiz» agiert als Koordinations- und Dienstleistungsstelle. Sie hat seit 2001 einen Leistungsauftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), den sie zusammen mit den Selbsthilfezentren und fünf Selbsthilfeorganisationen erfüllt. (Angaben der Stiftung Selbsthilfe Schweiz 2022)
Baumgartner weiss, was es braucht, um eine Selbsthilfegruppe zu realisieren. Sie begleitet Initianten von der Idee über die Ausschreibung bis zur Planung der Räumlichkeiten. Sie organisiert Fachpersonen, begleitet die ersten drei Treffen und denkt mit, wenn es um Regeln und Strukturen geht. «Ansonsten sind die Teilnehmenden die Experten. Sie gestalten die Treffen und führen sie weiter», betont die Sozialarbeiterin. «Sie tauschen ihre Erfahrungen aus, knüpfen Beziehungen unter Gleichbetroffenen und stärken damit sich selbst und andere.»
Diagnose Angststörung
So zum Beispiel Claudia. Sie ist 24 Jahre alt, gelernte Köchin, leidet unter Angststörungen und hat vor gut zwei Jahren eine Selbsthilfegruppe gegründet. «Erste Panikattacken hatte ich in der Schule», erzählt sie. Atemnot, ein Engegefühl in der Brust und Angst, ohnmächtig zu werden. «Niemand wusste, was mit mir los war – auch ich nicht.» Sie sei bis dahin ein ganz normales Kind gewesen, und es habe eine Weile gedauert bis eine Psychologin die Diagnose Angststörungen stellte.
Für Claudia folgten schwierige Jahre: Schulverweigerung, Lehrabbruch, stationärer Aufenthalt in der Psychiatrie, Leben in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft, Psychotherapie. Gerade als es ihr etwas besser ging - sie hatte eben die Lehre als Köchin abgeschlossen - fing die Corona-Pandemie an und ihre Ängste nahmen wieder zu. «Da habe ich gemerkt», meint die junge Frau rückblickend, «dass ich jetzt selber Verantwortung übernehmen muss, und zwar rasch.» Sie nahm Kontakt mit Selbsthilfe BE auf und startete Ende 2020 mit dem Aufbau einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Angststörungen.
Heute trifft sie sich alle zwei Wochen mit Menschen, die mit ähnlichen Themen zu kämpfen haben; verschickt Whats-App Nachrichten als Erinnerungshilfe an Teilnehmerinnen und ist im Kontakt mit Mitarbeitenden von Selbsthilfe BE, die sie bei Fragen rund ums Thema gemeinschaftliche Selbsthilfe unterstützen.
Angebote der Stiftung Selbsthilfe Schweiz
Die Selbsthilfegruppe in der heutigen Form hat ihre Vorläufer in der Arbeiter-, Frauen- und Jugendbewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Es wurden zahlreiche Vereine und Organisationen gegründet, die einen freien Austausch von Gleichgesinnten ermöglichten. Seither ist die gemeinschaftliche Selbsthilfe in stetem Wandel: von A wie «Alkoholismus» oder «Attacken durch feinstoffliche Energien» bis Z wie «Zeckenkrankheiten» oder «Zwangsstörungen» finden sich Angebote im körperlichen, psychischen und im sozialen Bereich. Wobei sich immer mehr Menschen für psychosomatische und psychologische Themen interessierten, wie die Dachorganisation Selbsthilfe Schweiz mitteilt.
Selbsthilfe mit Gott
Narcotics Anonymous (NA) ist die grösste weltweit aktive Selbsthilfegruppe von Drogensüchtigen. Auch in der Schweiz gibt es wöchentlich Meetings. In einem 12-Schritte-Programm (siehe unten) wollen sie gemeinsam clean bleiben. Wichtig dabei ist der spirituelle Ansatz, mit dessen Hilfe die Betroffenen ihr Leben aufräumen und neu ausrichten können.
Eine Studie der Hochschule Luzern und Universität Lausanne von 2017 zeigt auf, dass sich Selbsthilfe in individuellen und gesellschaftlichen Bereichen positiv auswirkt. Sie ergänzt die Gesundheitsversorgung und den Sozialbereich und leistet einen wertvollen Beitrag zur Prävention.
«Und manchmal tut es einfach gut, sich zu treffen», sagt Claudia. Auch wenn sie in der Gruppe nicht immer nur über ihre Probleme sprechen würden: «Ich bin froh zu wissen, dass es noch andere Menschen auf dieser Welt gibt, die nicht immer alles im Griff haben. Das verbindet uns, dafür bin ich dankbar.»
SRF-DOK
Leben nach den Drogen: Ex-Drogensüchtige erzählen vom clean bleiben mit Narcotics Anonymous
Die 12 Schritte von Narcotics Anonymus
Narcotics Anonymous (NA) ist eine Selbsthilfe-Organisation von Menschen, für die Drogen, Alkohol oder Medikamente zum Problem geworden sind. Hier sind die Schritte, die NA vorschlägt, um einen Ausweg aus der Sucht zu finden. «Im Wortlaut kommt der Begriff Gott vor», schreibt NA auf ihrer Website. «Dies bezieht sich nicht auf eine Religion oder Glaubensrichtung, sondern es kann hier jede und jeder selbst einsetzen, was für ihn oder sie persönlich passt im Sinne einer Kraft, die größer ist als wir selbst.»
1 Wir gaben zu, dass wir unserer Sucht gegenüber machtlos waren und unser Leben nicht mehr meistern konnten.
2 Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, grösser als wir selbst, unsere geistige Gesundheit wiederherstellen kann.
3 Wir trafen eine Entscheidung, unseren Willen und unser Leben der Fürsorge Gottes, so wie wir Ihn verstanden, anzuvertrauen.
4 Wir machten eine erforschende und furchtlose moralische Inventur von uns selbst.
5 Wir gestanden Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber die genaue Art unserer Fehler ein.
6 Wir waren vorbehaltlos bereit, alle diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.
7 Demütig baten wir Ihn, uns von diesen Mängeln zu befreien. Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden bereit, ihn bei allen wiedergutzumachen.
8 Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut, wo immer es möglich war, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.
9 Wir setzten die persönliche Inventur fort, und wenn wir Fehler machten, gaben wir sie sofort zu.
10 Wir suchten durch Gebet und Meditation die bewusste Verbindung zu Gott, wie wir Ihn verstanden, zu vertiefen.
11 Wir baten Ihn nur, uns seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.
12 Nachdem wir als Ergebnis dieser Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an andere Süchtige weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Prinzipien auszurichten.
© Narcotics Anonymous