Immer samstags stehen seit diesem Winter bis zu 200 Personen vor dem Kulturpunkt, einem interkulturellen Ort der Begegnung, in Chur an. Und es werden stetig mehr. Sie alle wollen gratis Lebensmittel von der Organisation «Essen für alle» erhalten, die der gebürtige Iraner Nariman Oslub nach Chur gebracht hat. Nariman Oslub weiss aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, mit sehr wenig Geld in Graubünden auskommen zu müssen. Damals lebte er ein Jahr lang in einer Unterkunft für Geflüchtete in Laax, zu fünft auf 20 Quadratmetern. Pro Monat stand ein Budget von 340 Franken pro Monat für Lebensmittel, Telefon und Mobilität zu Verfügung. Durch den Stress nahm Oslub in seinem ersten Jahr in der Schweiz 20 Kilogramm ab. Damals schwor er sich: «Wenn es mir besser geht, werde ich anderen Menschen mit wenig Geld helfen.»
Mit kleinem Budget in Graubünden leben
Alleinerziehende, Personen ohne Ausbildung und Migranten sind gefährdet, in Armut abzurutschen. Doch auch so manche Erwerbstätige müssen immer mehr rechnen. Hilfe gibt es auch.
Versprechen gehalten
Heute absolviert der ausgebildete Informatiker Oslub ein Praktikum, studiert gleichzeitig für einen Fachausweis und hat sein damaliges Versprechen gehalten. 2021 kam er über einen Zürcher Kollegen mit der Hilfsorganisation «Essen für alle» in Kontakt. Hierbei verteilen Freiwillige aussortierte Lebensmittel aus Supermärkten an Bedürftige. Mit Hilfe einer Familie aus der Freikirche Fokus C in Chur bekam Oslub ein Auto. Er holte Lebensmittel in Zürich ab und verpackte und verteilte sie eigenhändig in verschiedenen Unterkünften für geflohene Menschen in Graubünden.
Alle dürfen kommen
Seit diesem Winter ist die Gratis-Essensausgabe in Zusammenarbeit mit dem Kulturpunkt sowie der Bündner Beratungsstelle für Asylsuchende etabliert. Beides sind Angebote, die von der reformierten Kirche finanziell unterstützt werden. Ein spezielles Merkmal von «Essen für alle» ist, dass die Leute ohne vorherige Klärung ihres Bedürftigkeitsstatus die kostenlosen Lebensmittel abholen dürfen. «Wer bereit ist, samstags bis zu drei Stunden anzustehen und dafür auch aus Davos, Laax oder Arosa anreist, wird es wohl dringend benötigen», sagt Claudia Auth, mit der Nariman Oslub das Team in Chur leitet. Unter den Beziehenden sind laut den Organisatoren viele Ausländerinnen und Ausländer, zunehmend jedoch auch Schweizerinnen und Schweizer. Denn auch für sie wird das Leben teurer. «Für uns ist es immer ein Kampf, flüssig zu bleiben», erzählt eine 37-jährige Bergbäuerin aus der Surselva. Sie möchte nicht mit Namen in der Zeitung genannt werden, denn für sie ist es schambehaftet, über Geld zu reden. Als kleinerer Landwirtschaftsbetrieb mit Direktvermarktung der Produkte müssen sie und ihr Mann sehr genau rechnen und haben jeweils noch Zweitjobs. Schliesslich müssen auch die drei Kinder versorgt sein. Markenkleidung liege da nicht drin, und das letzte freie Wochenende war vor 7 Jahren.
Harte Berg-Landwirtschaft
«Wer heute in den Bergen Landwirtschaft betreibt, muss diese Arbeit lieben», sagt die Bäuerin, denn es sei ein ewiger Kampf ums Geld. Trotzdem schätzt sie den Beruf und würde sich das auch von der Gesellschaft noch stärker wünschen. Die Bauern bekämen zwar Direktzahlungen in der Schweiz, aber es könne immer zusätzlich Unvorhergesehenes passieren wie zum Beispiel eine kaputte Maschine oder Preisschwankungen am Markt, die dann erheblich zu Buche schlügen. Kleinbetriebe wie jener der Familie aus der Surselva sind nicht arm, aber das Leben der Bergbauern besteht aus viel Arbeit im Verhältnis zum erwirtschafteten Einkommen.
Armutsbericht gefordert
In der Schweiz gilt eine Familie mit vier Personen mit einem Nettoeinkommen von unter 4000 Franken als armutsgefährdet. Wie viele Menschen das im Kanton tatsächlich sind, ist nicht klar. Zwar gibt es die Zahlen von Sozialhilfebeziehenden, aber einen Armutsbericht hat der Kanton bisher nicht vorgelegt. Den forderte die Grossrätin und Kirchgemeindepräsidentin der reformierten Kirche Erika Cahenzli bereits 2020 von der Regierung. Insbesondere während der Corona-Zeit sei auch in der reichen Schweiz Armut sichtbarer geworden, sagt sie. Cahenzli will mit so einem Bericht präventiv arbeiten können, um Risikogruppen wie Alleinerziehende, Pensionäre und Kinder zu schützen. «Eine Verbesserung der Lage braucht eine Datengrundlage», so die SP-Politikerin. Die Bündner Regierung anerkennt das Anliegen in Cahenzlis Vorstoss und will ihn für das neue Regierungsprogramm prüfen.
Tiefe Sozialhilfequote im Kanton
Mit 1,3 Prozent ist die Quote derer, die im Kanton Sozialhilfe beziehen, schweizweit gesehen niedrig. Samuel Gilgen, Regionalleitung Avenir Social Graubünden, sieht Gründe dafür: Die Nichtbezugsquote von Armutsbetroffenen in Graubünden sei auch in der Angst von Menschen und Familien vor einer Stigmatisierung begründet. Die Verknüpfung der Aufenthaltsrechte bei ausländischen Menschen mit der Bezugsquote der Sozialhilfe sei eine weitere Hürde, Hilfen zu beantragen. «Das Zahlenmaterial im Kanton ist nicht gut», meint er daher.
Bezug der Kultur-Legi ist gestiegen
In eine ähnliche Richtung äussert sich auch Alessandro Della Vedova, Geschäftsführer der Caritas Graubünden: «Es ist schwierig, armutsgefährdete Menschen zu erreichen.» In den kleinen Dörfern des Kantons kennt man sich und möchte nicht als jemand, der Sozialhilfe bezieht, auffallen. Auch Menschen im Pensionsalter hätten oft zu kämpfen, ihr Leben zu finanzieren, da die Mieten besonders in Chur steigen. Der Bezug der Kultur-Legi, einer Vergünstigung für Menschen mit kleinem Budget, sei jedenfalls im letzten Jahr um 21 Prozent gestiegen. Alessandro Della Vedova befürwortet ein Armutsmonitoring: «Eine Studie zur Armut im Kanton ist sinnvoll, dann wissen wir, wo wir stehen.»