Recherche 03. Februar 2022, von Constanze Broelemann

Ein dunkles Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte

Jenische

Ein halbes Leben lang durfte Alois Kappeler nicht über sein eigenes Leben bestimmen. Mit schweren Konsequenzen für seinen Geist und Körper. Er lebt als AHV-Rentner in Landquart.

Ich bekam nie neue Kleider, kein Sackgeld, keine Ferien. Nur in die Kirche musste ich immer gehen.
Alois Kappeler

Seine Augen sind genauso stechend blau wie die des Huskys, der auf seinem Kapuzenpullover abgebildet ist. Aber nicht nur der Augen wegen übersieht man Alois Kappeler nicht so leicht. Im Restaurant Rätushof in Chur trinkt er an diesem Tag seinen Kaffee. Einen Café surprise, also einen, den bereits jemand anderes bezahlt hat. Diese gerade gestartete Kaffee-Aktion soll bedürftigen Menschen zugutekommen. Der evangelische Hilfsverein Chur hat das weit bekannte Projekt in den Kanton Graubünden geholt. Alois Kappeler hat ein kleines Budget und muss auf jeden Rappen achten. Er ist AHV-Rentner und empfängt zusätzlich Ergänzungsleistungen. Über 200 Franken verfügt er monatlich. Grund für sein Leben am Existenzminimum ist eine schier unglaubliche Geschichte, von der man jedoch eine Ahnung bekommt, wenn man in sein Gesicht schaut, das seine eigene Geschichte erzählt.

Von jenischer Abstammung
Im Alter von bereits zwei Tagen wird der kleine Alois seiner Mutter weggenommen. Der heute 67-Jährige ist jenischer Abstammung und wird Opfer der Aktion «Kinder der Landstrasse». Hierbei nahm die Stiftung Pro Juventute zwischen 1926 bis 1973 mithilfe der Behörden mehrere Hundert Kinder aus sogenannten «Vagantenfamilien» ihren Eltern weg mit dem Ziel, die Kinder zu «sesshaften» und «brauchbaren» Menschen zu erziehen. Der Leiter der Aktion, Alfred Siegfried, sagte damals: «Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderreissen.»
Auch Alois wurde unter behördliche Obhut gestellt. Er wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf und wurde immer wieder in Psy­chiatrien eingewiesen, wo er mit Medikamenten ruhiggestellt und mit Wasserbädern, Elektroschocks, Zwangsjacken und Schlägen mal-trätiert wurde. Er musste bei den Bauernfamilien ohne Lohn arbeiten und sogar für Kost und Logis zuzahlen. «Ich habe nie neue Kleider bekommen, kein Sackgeld, keine Ferien.» Nur in die katholische Kirche musste er jeden Sonntag. «Wäre ich nicht gegangen, hätten sie mich eingesperrt.»
Kappeler war bis zu seinem 45. Lebensjahr unter Bevormundung durch einen Beamten des Kantons Schwyz. In dieser Zeit wurde er an mehr als dreissig Orten fremdplatziert. «Ich konnte mich nie frei bewegen.» An jedes Detail erinnert er sich nicht mehr, aber viele traumatische Erlebnisse haben sich in sein Gedächtnis gebrannt. Wie der Unfall, als er 13-jährig beim Rinderhüten im Engadin 24 Meter in die Tiefe stürzte. Wegen der schweren Verletzungen musste er per Helikopter nach Zürich geflogen werden.
Oder die Geschichte, als er mit einem Insassen aus der Psychiatrie in Pfäfers ins deutsche Karlsruhe floh, unwissend, dass dieser Mann ihn wochenlang sexuell missbrauchen würde. Kappeler war damals 17 Jahre alt, der Mann 48. «Die Verarbeitung all dieser Erlebnisse, die ich hatte, geht nie vorbei», sagt er.
 
Bündner Journalist deckt alles auf
Erst die Arbeit des Bündner Journalisten Hans Caprez, der in der Zeitung «Beobachter» kontinuierlich das Unrecht an den Jenischen aufdeckte, beendete 1972 die Aktion «Kinder der Landstrasse».
Der Kanton Graubünden spielt in der Geschichte der Jenischen eine besonders unrühmliche Rolle. So kam etwa die Hälfte aller jenischen Menschen, die fremdplatziert wurden, aus dem Kanton. Das liege auch daran, dass Graubünden eine «gründliche amtliche Bestandsaufnahme» der «Vaganten» gemacht habe, sagt der Historiker Thomas Huonker, der in einem Buch elf Erfahrungsberichte von Jenischen gesammelt und veröffentlicht hat. Eine traurige Vergangenheit hat in diesem Zusammenhang auch die Klinik Waldhaus in Chur, dessen Direktor, der Psychiater Johann Josef Jörger, «Stammbaumforschungen an jenischen Familien Graubündens» betrieb. Der Psychiater wollte nachweisen, dass unter jenischen Menschen unter anderem «Vagabundismus, Verbrechen, Unsittlichkeit und Geistesschwäche» vererbt würden. Jörgers Publikation wurde zu einem Standardwerk für Rassenhygiene bei den Nationalsozialisten. Für den Historiker Huonker sind die Verbrechen an den Jenischen ein versuchter Genozid, Rassismus par excellence. Man wollte ihre Kultur und Sprache ausrotten und mit Zwangssterilisationen die Geburtenrate senken.

Versuch einer Wiedergutmachung
1986 entschuldigte sich Bundespräsident Alphons Egli für die finanzielle Beteiligung des Bundes an der Aktion «Kinder der Landstrasse». 1987 folgte die Entschuldigung der Pro Juventute. Das Parlament bewilligte schliesslich elf Millionen Franken zur «Wiedergutmachung». «Ich erhielt insgesamt 25 000 Franken», sagt Alois Kappeler. Inzwischen geht es ihm besser. «Meine Gesundheit ist sehr gut», sagt er. Das habe ihm sein Hausarzt bescheinigt. Noch zwei Jahre soll seine Therapie aus Gesprächen und körperlichem Wiederaufbau gehen, sagen Alois Kappelers Ärzte.Seit 1998 sind die Fahrenden endlich offiziell als nationale Minderheit in der Schweiz anerkannt.