Recherche 20. Dezember 2016, von Brigitte Becker

Der lange Weg aus der Dunkelheit ins Licht

Gastbeitrag

Nur vier Worte brauchten die Hirten, um zum Stall zu gelangen. Brigitte Becker über ihren liebsten Satz der Weihnachtsgeschichte.

Nur ganze vier Worte, kein einziges mehr, brauchen die Menschen in der Weihnachtsgeschichte, brauchen die Hirten auf dem Feld, das Volk im Dunkeln, um zur Krippe zu finden. Stellen Sie sich das einmal vor!

«Und sie gingen eilends», heisst es im Lukas­evangelium (Kapitel 2, Vers 16). In nicht einmal einem halben Satz sind sie von der Dunkelheit zum Stall geraten, von der Kälte und der Verlassenheit ins Licht, von draussen dorthin, wo der Heiland geboren wurde. Das genau ist der Moment in der alten Geschichte, der mir am besten gefällt und den ich zugleich am wenigsten glauben kann.

Eilig und erwartungsvoll. Da eilen welche, als ob es etwas zu verpassen gäbe. Weil sie die Ersten sein wollen, die da sind. Weil sie sehen wollen, wovon sie haben sagen hören. Sie wollen sich überzeugen. Ohne Sorge, dass das Angekündigte vielleicht gar nicht wahr ist. Voller Neugier und Vorfreude. Man spürt die Aufregung. Und erinnert sich vielleicht an die leise Qual der eigenen Kindertage, an das kaum ausgehaltene «Wir warten aufs Christkind» im Fernsehen und die Sehnsucht, die Zeit nach vorne zu drehen.

Erwartungsvolle Menschen sitzen selten. Sie laufen eher unruhig umher und versuchen durchs Schlüsselloch der Weltgeschichte zu spähen. Wenn sie können, machen sie sich auf, dorthin, wohin das Licht der Verheissung sie zieht, dorthin, wohin Engel sie schicken.

Im Kinderbuch «Das Weihnachtsgeheimnis» des norwegischen Autors Jostein Gaarder ist Eile Programm. Ein Junge unserer Tage geht los. Mit jedem Kapitel laufen immer mehr Menschen aus verschiedenen Zeiten immer schneller auf Bethlehem zu, um rechtzeitig bei der Krippe zu sein. Am Ende stehen sie im Stall, dort, wo das Ewige auf die Erde fällt. Sie erfahren: Gott wird ein Kind und braucht – wie alle Kinder – Fürsorge und Hilfe von anderen. Als ich das Buch las, ergriff mich die erzählte Eile und ich wäre so gern mitgelaufen.

Es gibt, das wird an den Eilenden klar, etwas zu verpassen. So lange schon angekündigt, dort im Stall geboren, die Hoffnung. Also los!

Beschwerlich und ungewiss. Doch hat nicht der Weg der Hirten in Wahrheit vermutlich viel länger gedauert? Mehr als einen Halbsatz, mehr als diesen gefühlten, eiligen Augenblick?

Hinter diesen wenigen Worten lag, so vermute ich, doch wohl eher eine lange, vielleicht beschwerliche Strecke. Wie konnten die Hirten überhaupt so schnell sicher sein, in welche Richtung sie gehen mussten? Im Dunkel draussen auf dem Feld? Schon als die Engel zu ihnen kamen, überkam sie die Angst. Sie wird kaum mit einem einzigen «Fürchtet euch nicht» verschwunden sein. Stattdessen, so denke ich mir, haben sie beratschlagt und sind dann gegangen, die Mutigen vorneweg, dann die anderen. Waghalsiger Weg in die ungefähr angezeigte Richtung. Nur auf die Einladung hin, ein Kind in Windeln zu finden, das der Heiland der Welt werden soll, der Frieden bringt. Ich wäre vermutlich am hinteren Ende geschlichen. Kalte Wege durch die Dunkelheit. Nicht sicher, ob es wirklich ein Ankommen gibt. «Euch» ist der Heiland geboren. Wird sich das irgendwie erfüllen? Gehöre ich dazu?

Vier Worte nur. Zögerlich stapfe ich hintendrein. Denke an die Verlorenen in Aleppo, die sich nach Frieden sehnen. An die Verzweiflung von Menschen auf dem Meer, die Not von solchen, die ich kenne, und bin mir auf dem Weg immer ungewisser, ob das, was hier verheissen ist, wirklich auch mir gilt. Auf dem Weg zur Krippe ist keineswegs sicher, ob wir ankommen werden.

So gehen wir also im Dunkeln. Auf dem Weg ist wenigstens Zeit für die alten Lieder, die wir jetzt singen, und die alten Worte, die wir jetzt hören. Auch – oder gerade – weil sie uns ein bisschen das Fürchten lehren: vom Volk, das im Finstern ist, von der unerlösten Welt, von den leeren Herzen, den bangen Hoffnungen und der Ungerechtigkeit. Davon verstehen wir alle etwas, die auf dieser Welt leben, seit damals und bis heute. Das Kind im Stall wird die Antwort sein. Ausgerechnet. So betrachtet, ist es legitim, doch umzudrehen und bei den Schafen zu bleiben. Aber vielleicht ist dennoch, auch dieses Jahr, die neugierige Ahnung grösser, die das Wunder wenn nicht verstehen, dann doch wenigstens bestaunen will? Ich jedenfalls werde mich auf den Weg machen. Sehnsüchtig nach dem Frieden, den diese Geschichte vom Stall ausstrahlt. Und was ersehnen Sie?

Überraschend und tröstlich. Vier Worte. In der Übersetzung nach Martin Luther haben sie eine kleine, feine Variante. Dort heissen sie einfach «und sie kamen eilend» und verschieben mit einem Wort die ganze Perspektive. Während die Gehenden noch ihre Wege finden müssen, während wir, nur mit der Sehnsucht im Gepäck, noch durch das Dunkel stapfen, sind wir hier, vom Geschehen, vom Stall aus be­trachtet, die Kommenden, die immer einfach an­kommen. Natürlich haben Sie gemogelt beim Übersetzen, lieber Herr Luther. Aber es tröstet doch sehr. Wir suchen und Gott findet uns. Beides zu derselben Zeit. Frohe Weihnacht!